1977 - Woody Allen entdeckt seine ernste Seite

10.09.2012 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Annie Hall
United Artists
Annie Hall
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Mit To Rome with Love hat er gerade seinen alljährlichen Film ins Kino gebracht. Also versucht sich Markante Momente heute an einem Mann, der beim besten Willen nicht in 800 Worten abgehandelt werden kann.

Er ist ein jüdischer Regisseur, der an über 50 Filmen mitgewirkt hat. Er nennt 23 Oscarnominierungen und immerhin vier der Auszeichnungen sein Eigen. Sein Faible für die Psychoanalyse findet sich in jedem der Werke wieder, die er in schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr in die Kinos bringt. Von Hollywood hält er nicht viel, da zieht er schon lieber Klarinette spielend durch New Yorker Clubs oder bereist potentielle Filmschauplätze in good old Europe. In seinen Vorspännen nutzt er schon seit Dekaden die immer gleiche weiße Schrift – Windsor Light Condensed – auf schwarzem Grund. Und wer jetzt immer noch nicht weiß, um wen es geht, dem sei noch gesagt, dass er außerdem die immer gleiche dicke schwarze Hornbrille trägt.

50 Mal der gleiche Film?
Woody Allen ist ein echtes Urgestein und einer der wenigen Autorenfilmer, der seinen Stil über all die Jahre so konsequent durchgezogen hat wie kaum ein Zweiter. Ich bekenne gern ohne Umschweife, dass er zu meinen absoluten Lieblingsregisseuren gehört. Und den Vorwurf, er habe im Grunde fünfzig Mal den selben Film gedreht, lasse ich schon mal gar nicht gelten. Wie erklärt es sich sonst, dass der Mann vom Kriminalfilm wie Verbrechen und andere Kleinigkeiten über Dramen à la Hannah und ihre Schwestern und Musicals (Alle sagen: I Love You) bis hin zu Screwball (Eine Sommernachts-Sexkomödie), Mockumentaries (Zelig) oder schwarzen Komödien (Match Point) einfach alle Genres beherrscht?

Aber ich gebe schon zu, so manche Themen tauchen in den gefühlten 387 Filmen von Woody Allen immer wieder auf. Nur allzu gern inszeniert sich der Regisseur beispielsweise als Zauberer, ob als hauptberuflich Professioneller wie in Scoop – Der Knüller oder Fan und angehender Assistent wie in Schatten und Nebel. Überhaupt ist der ganze Woody Allen eine einzige Kunstfigur. Schmächtige Statur, neurotisch und intellektuell, geplagt von der Welt und Beschwerden wie psychosomatischer Blindheit in Hollywood Ending oder Out-of-Focusness wie in Harry außer sich.

Ein Spaßmacher entdeckt seine ernste Seite
Begonnen hatte der überzeugte New Yorker allerdings mit Klamauk anarchischster Sorte. Vom Gag-Schreiber mit dem ursprünglichen Berufsziel Standup-Comedian avancierte er zum Drehbuchautor und drehte schließlich erste Filme. In der Slapstick-Komödie Bananas nahm er ganz in der Manier von Groucho Marx die Kubakrise aufs Korn und in Was Sie schon immer über Sex wissen wollten zwängte er sich in ein hautenges Kostüm um als Spermium die Aufklärungsfilme der Fünfziger zu persiflieren.

Irgendwann reichte es Woody Allen aber nicht mehr, nur immer den Clown zu spielen und er begann, seinen Filmen einen ersten Unterton zu verleihen. Was sich in Die letzte Nacht des Boris Gruschenko bereits ankündigte, kulminierte schließlich in dem Film des Regisseurs, auf den sich irgendwie alle einigen können, weil er all seine Vorzüge vereint: Der Stadtneurotiker.

Intellekt mit einem Augenzwinkern
Die Rolle der Annie Hall wurde Diane Keaton, Allens früherer Freundin, auf den Leib geschrieben. Sie und ihr neurotischer Filmpartner Alvy Singer tun in Der Stadtneurotiker vor allem eins: reden, reden und nochmals reden. Trotzdem war und ist der Streifen etwas ganz besonderes. Vielleicht, weil er sich keinen anderen Film zum direkten Vorbild nimmt. Stattdessen benutzt er unkonventionelle Methoden wie den Blick in die Kamera und kommuniziert so auf direktem Wege mit seinem Publikum.

Nach Der Stadtneurotiker wurde es dann erst so richtig ernst. Mit Innenleben setzte Woody Allen seinem großen Vorbild, dem schwedischen Regisseur Ingmar Bergman ein Denkmal, und in Manhattan wandelte er zu den Klängen von George Gershwin von Frau zu Frau. Wer glaubt, dass ihm für diese Wandlung nur Beifall blühte, irrt sich allerdings gewaltig. Viele Zuschauer und Kritiker wünschten sich den unbeschwerten Clown zurück und im stark an Achteinhalb von Federico Fellini angelehnten Stardust Memories kamen sogar Außerirdische mit einem UFO vom Himmel herab, um zu verkünden, sie würden die „early funny ones“ dann doch eher bevorzugen.

Woody Allen kratzt das alles herzlich wenig. Pünktlich wie ein Uhrwerk liefert er Jahr für Jahr einen neuen Film ab. Und wenn wir eines aus Hollywood Ending gelernt haben, dann ist es doch das: nur weil ein Film in den USA floppt, heißt das noch lange nicht, dass er in Frankreich nicht zum Hit werden kann.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1977 bewegte:

Drei Filmleute, die geboren sind
02. April 1977 – Michael Fassbender, der sexsüchtige Brandon aus Shame
14. April 1977 – Sarah Michelle Gellar, Vampirjägerin buffy–im-bann-der-damonen
01. Juli 1977 – Liv Tyler, die Elbenprinzessin aus Der Herr der Ringe: Die Gefährten

Drei Filmleute, die gestorben sind
03. Juni 1977 – Roberto Rossellini, neorealistischer Regisseur von Rom, offene Stadt
19. August 1977 – Groucho Marx, der Regierungschef aus Die Marx Brothers im Krieg
25. Dezember 1977 – Charlie Chaplin, Stummfilmstar aus Der große Diktator

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – Rocky von Irwin Winkler
British Academy Film Award – Einer flog über das Kuckucksnest von Milos Forman
New York Film Critics Circle Award – Der Stadtneurotiker von Woody Allen

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Krieg der Sterne von George Lucas
Unheimliche Begegnung der dritten Art von Steven Spielberg
Nur Samstag Nacht von John Badham

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
27. März 1977 – Beim schlimmsten Unglück der Luftfahrtgeschichte über Teneriffa sterben 583 Menschen
13. Oktober 1977 – Entführung des Flugzeuges Landshut durch die RAF
18. Oktober 1977 – Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird von der RAF entführt und ermordet

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