Die Anders Breivik-Show: Paul Greengrass verfilmt den 22. Juli

06.09.2018 - 10:55 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
22. Juli
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Paul Greengrass hat einen Film über den rechtsradikalen Anschlag in Oslo und Utøya 2011 gedreht. In dem Netflix-Film 22. Juli nimmt dieser aber nur eine knappe halbe Stunde ein. Es geht um die Folgen - und den Täter.

Der Arbeitstitel für 22. Juli lautete Norway, was Aufschluss über das Anliegen des neuen Films von Paul Greengrass gibt. Es ist dieses Jahr der zweite Film, der sich mit den rechtsradikalen Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya im Juli 2011 befasst. Der erste, Utøya 22. Juli, startet am 20.09.2018 in den deutschen Kinos. Die norwegische Produktion beschränkt sich dem Titel gemäß auf die Echtzeit-Nacherzählung der Geschehnisse auf der Insel. "Norway" würde Greengrass' Film besser zusammenfassen, da er die Makroperspektive einzunehmen versucht. Vom Premierminister bis zur Justiz reicht die Beobachtung der Institutionen, während anhand eines Überlebenden mit schweren Verletzungen die Verarbeitung dieser Anschläge verfolgt wird. Was Greengrass' Film noch von dem norwegischen Pendant unterscheidet: Der Täter nimmt eine prominente Rolle ein und seine Ideologie ebenfalls. Es ist der Fallstrick von 22. Juli, der im Wettbewerb des Festivals von Venedig läuft.

Das Hier und Jetzt ist die Heimat von Paul Greengrass

Paul Greengrass ist ein Regisseur des Ausnahmezustands. Für gewöhnlich konzentriert er sich auf Ausschnitte, die Rückschlüsse auf das große Ganze geben. 2002 feierte er seinen Durchbruch mit Bloody Sunday, in dem er den Tag des Massakers in Derry, Nordirland 1972 aus der Sicht eines Parlamentariers schildert. Flug 93 beschränkte sich auf den Kampf von Passagieren in einem Flugzeug der Anschläge vom 11. September. Auch Captain Phillips befasst sich primär mit ein paar Stunden im Leben eines Kapitäns und seines Widersachers, die finanziellen Zwänge auf beiden Seiten werden nebenbei gestreift. Weltumspannende Verschwörungen gebieten über die Storys seiner mittlerweile drei Bourne-Filme, der zeitliche Rahmen jedoch bleibt klein. Das Hier und Jetzt ist die Heimat von Paul Greengrass. In 22. Juli weicht er davon ab.

22. Juli

Was ein Segen ist, zumindest wenn es um die Inszenierung der Anschläge vom 22.07.2011 geht. Greengrass verwendet die erste halbe Stunde des von ihm mitgeschriebenen Films darauf, die Ausführung des Plans zu zeigen, der 77 Menschen das Leben gekostet hat. In seiner Hütte schüttet der Täter (Anders Danielsen Lie) die Sprengstoffmischung in mehrere Mixer. Der weiße Lieferwagen, der vor dem Bürogebäude des Ministerpräsidenten explodieren wird, fährt durch die Wälder Norwegens, als befände er sich auf dem Weg zum Overlook Hotel. Auf der Insel flirten und diskutieren die jungen Mitglieder der Arbeiterpartei, bis die Nachrichten aus Oslo eintreffen. Dann setzt der als Polizist verkleidete Attentäter mit der Fähre über und das Massaker nimmt seinen Lauf. Er werde die Marxisten, Liberalen und Eliten auf der Insel ermorden, ruft er. Fünf seiner Schüsse landen im Körper des jungen Viljar (Jonas Strand Gravli) in einer Sequenz, die sich ebenso gut in einem Agenten-Actioner von Greengrass finden könnte.

Die Spannung wird angezogen, als der Junge angeschossen am Ufer liegt. Anders Behring Breivik - Filmfigur - muss nachladen. Der jüngere Bruder will Viljar helfen. "Hau ab", meint der schwer verletzte Viljar, der mit dem Bauch auf den Steinen liegt. Breivik tauscht das Magazin in seinem Gewehr. Es rastet ein. "Hau ab", wiederholt Viljar verzweifelt, und schon zischen die Kugeln an seinem Schädel vorbei. Der Bruder entkommt. Breivik wendet sich ab. Wenig später stellt er sich der Polizei. Die erste halbe Stunde von 22. Juli zeigt den Thriller-Regisseur Paul Greengrass auf der Höhe seiner Kunst, nur etwas ruhiger als in Captain Phillips oder früheren Filmen. Greengrass hat seit Jason Bourne wohl seine klassische Phase eingeläutet. Dass er diese Entwicklung in einem Film über einen realen Anschlag fortführt und dessen Täter so in die visuellen Erzählmechanismen eines Actionthrillers einbettet, erweist sich dabei als gelinde gesagt suboptimal.

Greengrass' 22. Juli wird von dem Panorama überfordert

Es gibt nicht die eine Lösung für die Darstellung einer solchen Tat. Die Ansätze reichen von der träumerischen Distanz aus Elephant bis zur minutiösen Imitation der Authentizität in der norwegischen Verfilmung. In dieser werden die Ereignisse auf Utøya als lange Sequenz ohne Schnitt aus Sicht eines fiktiven Opfers dargestellt. Auch das bringt Probleme mit sich. In 22. Juli prahlt Greengrass' Breivik später, seine Rede vor dem Gericht werde sein dritter Anschlag werden. Damit enthüllt der Film erste Widersprüche in seiner Konzeption, die zum Ende hin unübersehbar werden. Film-Breivik (und der reale ebenso) sucht die Öffentlichkeit. Er ist ein Selbstdarsteller, der durch seinen vermeintlichen Startschuss einer rechtsradikalen Revolution gesehen und gehört werden will. Im Film wird sich viel darauf eingebildet, dass den Opfern eine Stimme verliehen wird, dass sie weiterleben, und wenn nur in der Erinnerung, wie Viljar vor Gericht erklärt. Der Täter werde hingegen allein in seiner Zelle vergessen. Nun steigt Breivik aber im Drehbuch von Greengrass und der Autorin Åsne Seierstad zur zweiten Hauptfigur neben Viljar auf. Breivik ist Figur eines Unterhaltungsfilms geworden und wird auch so inszeniert.

22. Juli

Greengrass hat 22. Juli mit einer norwegischen Besetzung auf Englisch gedreht. Anders Danielsen Lie, einer der traurigen Männer aus Joachim Triers Filmen (Oslo, 31. August), gibt Breivik als megalomanischen Einzelgänger mit Sehnsucht nach Anschluss, und wenn es nur anonyme Rassisten sind. Die Kamera umgarnt sein jungenhaftes Gesicht. Kein verächtliches Lächeln, kein zweifelnder Blick wird ausgelassen. Ihm steht Jonas Strand Gravli als Viljar gegenüber, der leben und laufen neu lernen muss. Viljar gibt es wirklich und seine Geschichte der Genesung bildet in 22. Juli einen Fluchtweg von der Breivik-Bühne. Hören wir die über die ausdruckslosen Blicke des Täters spekulierenden Nachrichtenmoderatoren, während Viljar sich durch die schmerzhaften Millimeter seiner Reha quält, dann kratzt 22. Juli für ein paar Sekunden an den Ambitionen, die ihm innewohnen.

Greengrass hat jedoch eine Anders Breivik-Show gedreht. Der Regisseur und Autor, so geborgen in den Szenen des Terrors, wird von dem Panorama in 22. Juli überfordert. Verschwindet die Energie der Angst, bleibt in diesem Film das schematisch Gutgemeinte. Zwar wird in 22. Juli auch beobachtet, wie ein Rechtsstaat mit einem Terroristen verfährt, Greengrass war jedoch noch nie ein Regisseur der nüchternen Prozesshaftigkeit. Die Verhaftung und Inhaftierung eines 17-jährigen Tschetschenen, der zu den Überlebenden gehörte, wird bei Greengrass nicht einmal erwähnt. Es würde die Message eines Films beschmutzen, in dem einiges darauf gehalten wird, dass die (verfilmte) Gesellschaft dem rechten Terror nicht weicht - der dessen Täter jedoch sieben Jahre nach Oslo und Utøya das Scheinwerferlicht zurechtrückt.

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