Wisst ihr, wie ein wahrer Sommertag sein sollte? Er sollte euch, von dem Moment, an dem ihr eure Augen öffnet, keine Wahl lassen, ob ihr ihn erlebt, ganz gleich wo, ganz gleich wie. Er sollte da sein, unausweichlich, unerbittlich, in allem was ihr spürt, seht, hört und schmeckt, denn ihr sollt ihn erleben. Er sollte euch ergreifen, mitreißen, wohin er euch auch führen will und nicht mehr loslassen. Er sollte brennen, mehr noch: Er sollte jede eurer Fasern zum Brennen bringen. Noch nachts, wenn die Sonne längst fort ist, sollt ihr im Bett liegen und an ihrer Statt glühen! Denn am Ende dieses Tages seid ihr der Sommer.
Genau so sollte auch ein echter, ein wahrer Liebesfilm sein. Er sollte euch glücklich machen und nach Atem ringen lassen, auch wenn er euch nicht glücklich und atemlos zurücklassen muss. Ein Film über Liebe sollte so viel mehr sein als nur über das Verknalltsein. So viel mehr als nur über Körperlichkeit, den Moment, die Euphorie. Nach einem Film über Liebe sollt ihr brennen! Genau so wie nihilisticguy94, nachdem er Call Me By Your Name sah.
Der Kommentar der Woche von nihilisticguy94 zu Call Me By Your Name
Ein Ereignis
Als ich gestern das Kino verlassen hatte, den Film zum zweiten Male geschaut habe, zitterte mein ganzer Körper. Überwältigt von der puren Schönheit jeder einzelnen Einstellung, von der Radikalität der Liebe. Ich hatte die italienische Sonne auf meiner Haut gespürt, die mediterrane Luft gerochen, die Aprikose geschmeckt. Für zwei Stunden war mein Körper aus Raum und Zeit völlig entrückt. Das schafft nur herausragende Literatur und Kino.
Dies ist mit Sicherheit einer der besten Liebesfilme des Jahrzehnts.
Hier treffen zwei Menschen aufeinander, zwei Körper aber auch zwei
Geister. Denn dieser Film verbindet leidenschaftliche Sexualität mit dem
tiefsinnigen Intellektuellem, sinnliche Erotik mit lebendiger Kultur.
Selten im modernen Kino würde Körperlichkeit zu hervorragend
dargestellt (Bsp. Herzensbrecher von Xavier Dolan). Nicht nur die
Körperlichkeit der Menschen, sondern auch der meist hellenistischen
Statuen, die auch immer wieder auftauchen. Dabei zeigt der Film nicht
bloß diese Statuen aus ästhetischen Gründen und spielt nicht nur
klassische Musik, weil sie schön klingt. Nein, dieser Film lebt die
antiken und klassischen Ideale in jeder einzelne Szene!
Welchem Geschlecht die Körper angehören ist in diesem Film
zweitrangig. Es gibt Sex zwischen Mann und Frau, Mann und Mann, und Mann
und einer Aprikose. Den Gefühlen jeder Person wird in diesem Film Platz
gegeben. Das macht den Film so humanistisch. Zwar liegt der Fokus des
Films auf der Liebesbeziehung zwischen zwei Männern, jedoch werden die
Beziehungen zu den Frauen, die fast ebenso erotisch und intensiv sind,
nicht als Hindernis betrachtet.
Dies ist kein typischer Problem-Film. Bis auf die letzten 10 Minuten
herrscht allumfassende Harmonie. Das wurde oft kritisiert. Doch sein
wir ehrlich: Gibt es nicht genug Problem-Filme? Wobei die meisten nicht
mal Lösungen anbieten können. Dieser Film ist eine erfrischende
Abwechslung in der oft zu tristen Kino-Landschaft.
In meiner Kritik zu Shape of Water - Das Flüstern des Wassers habe ich kritisiert, dass so
viele Filme im Moment ihre Handlung in die Vergangenheit legen, um sich
somit vor der Gegenwart zu drücken.
Call me by your Name spielt ebenfalls in der Vergangenheit, in den
80ern. Aber hier finde ich die Entscheidung sehr gut. Zum einen basiert
dieser Film natürlich auf einer Romanvorlage, zum anderen: Hätte diese
Liebesgeschichte wirklich im Zeitalter von totaler Vernetzung, von
ständiger Erreichbarkeit, von Gindr und Tinder funktioniert? Ich glaube
nicht. Sie hätten ihre Facebook-Profile überprüft, sich gegenseitig
ständig auf Whatsapp geschrieben... Die Liebe hätte nicht mal Zeit gehabt
sich zu entwickeln. Es wäre nur ein schneller Fick gewesen. Die
allumfassende Digitalisierung macht eben nicht nur die Liebe fast
unmöglich, sondern auch den echten Liebesfilm.
Was uns hier im Film präsentiert wird ist ein Ereignis im zizekischem
Sinne. Eine überraschende, außergewöhnliche, wunderbare Begebenheit,
deren „Effekt ihre Gründe zu übersteigen scheint“, und sich anschickt
die umliegenden Rahmen des status-quo zu sprengen.
Die Liebe, die hier gezeigt wird, ist eine wahre Liebe, verbunden
mit tiefer Obsession, sowohl körperlicher als auch seelischer Natur, und
auch mit dem Schmerz, der unweigerlich auf das Sich-Verlieben folgt.
Dieser Sturz, so Zizek, welcher auch durch ganz viele Sprachen
ausgedrückt wird (falling in love, tomber amoureux, وقع في حبها , 恋に陥る )
wird in vielen Geschichten heute weggelassen. Es gibt keinen Sturz
mehr, es folgt kein schmerzhafter Aufprall mehr. Doch genau dieses
destruktive Element zeichnet Liebe aus. Schmerz macht aus bloßem
Verknallt-Sein wahrhaftige und radikale Liebe.
Und diesen Schmerz muss man aushalten, sagt der Vater im einem der
besten Monologe des letzten Filmjahres. Mann muss ihn ertragen, man darf
nicht sein Herz aus Angst verhärten. Viel eher sollte man sich glücklich
schätzen, dieses wertvolle Gefühl verspürt zu haben. Denn Liebe ist
nur ganz wenigen Menschen vorenthalten. Es ist wirklich ein
außergewöhnliches Ereignis.
Schaut euch bitte diesen Film an! Ich lasse die Ausrede „Öhh, ich bin doch nicht schwul, was hab ich damit zu tun?“ nicht gelten. Was hat euer Leben mit Super-Helden, Spionen, Zombies, Königen und Außerirdischen zu tun?