Netflix-Experiment: Wie es sich anfühlt, Dunkirk auf dem Handy zu sehen

22.06.2019 - 09:45 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
DunkirkWarner Bros./Netflix
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Dunkirk ist gewaltiges IMAX-Spektakel, mehr Format geht nicht. Wir haben uns gewagt, was Christopher Nolan in Rage bringen würde: Das Meisterwerk via Netflix auf einem Smartphone zu schauen.

Ich verehre Dunkirk. Christopher Nolans Meisterwerk ist ein einzigartiges Seherlebnis. Reduziert auf das Wesentliche, das Handeln der wortlosen Figuren ist rein instinktiv. Quasi ein Stummfilm mit Ton. Und ein Kriegsfilm, der keiner sein will, sondern sich als wahnsinnig unangenehmer Survival-Psycho-Thriller präsentiert. Der Titel hätte mit Netflix keinen unpassenderen Anbieter finden können.

Dunkirk und Netflix: Ein ungleiches Paar

Es handelt sich genau um die Streamingplattform, die Christopher Nolan bereits öffentlich kritisiert hat. Der Kino-Ästhetiker huldigt wie kaum ein Zweiter der großen Leinwand, dreht bekanntlich nur auf Analogfilm und verzichtet weitestgehend auf Visuelle Effekte. Quasi ein Botschafter für Lichtspiel-Nostalgie. Netflix ist das genaue Gegenteil von Nolans Werten: Digital, für alle und überall abrufbar.

Dunkirk von Christopher Nolan

Heißt, man kann die Plattform auch auf Mobilgeräten benutzen, gut ein Viertel der Abonnenten soll Filme und Serien auf Smartphones und Tablets konsumieren. Bei diesem Gedanken dürften dem The Dark Knight-Regisseur Nolan die Zelluloid-Sicherungen durchbrennen - auch ich halte die Idee, Dunkirk auf einem Handy zu sehen, für eine Wahnvorstellung. Also habe ich genau das getan. Und es war der Hammer.

Dabei grenzt es an Majestätsbeleidigung gegenüber dem Schöpfer des Werks. Dunkirk steht in Form einer Blu-ray im heimischen Regal, die bereits mehrfach auf einer kräftigen wie analogen Teufel-Surround-Sound-Anlage den Dielenboden zum Erbeben brachte. Übrigens am PC, nicht am Fernseher, falls das kümmerliche Stereosystem auf dem nächsten Fotomotiv Verwirrung stiftet.

Und jetzt auf einem Handy? Undenkbar.

IMAX auf dem Smartphone: Geht das?

Wie fühlt sich das an? Ein Film, den ich erstmals auf einer IMAX-Leinwand gesehen habe, die zehnmal größer ausfällt als die eigene Wohnung, auf einem kleinen Telefon? Es sollte sich als faszinierender Selbstversuch herausstellen. Dafür diente ein iPhone 8 Plus, das mit 5,5 Zoll Bildschirmdiagonale exakt ein Zehntel des alternativen TV-Geräts aufweist, das im Wohnzimmer steht.

Zwei Welten: Dunkirk auf dem großen Fernseher und auf dem iPhone.

Dunkirk auf der Netflix-iPhone-App - Smartphone ist nicht gleich Smartphone

  • Die Displaygrößen der gängigen Handygeräte sind heute stark verschieden. Sie reichen von 4 Zoll bis zu über 6.
  • Manche schauen mit Kopfhörern, andere über die eingebauten Lautsprecher. Für diesen Test wurde auf Ersteres zurückgegriffen.
Allein die Wahl des Handys bewirkt viel: Hier liegen ein 4 Zoll-Gerät und und eines mit 5,5 Zoll.

Zunächst zum Klangerlebnis. Eine Tonmeister-Weisheit: Erst wenn du deinen Ton auf die schlechtmöglichste Weise hörst, weißt du, wie gut er wirklich ist. Das gleiche gilt für Dunkirk. Mit einer performanten Sound-Anlage ist der Stereo-Kopfhörer-Eindruck nicht zu vergleichen, aber die Akustik des Films ist viel zu virtuos, um nicht dennoch zu beeindrucken.

Der Ton: Keine Angst mehr vor wütenden Anwohnern

Außerdem ein klarer Vorteil: Dank der Kopfhörer muss kein Nachbar um sein Leben bangen. Dunkirk ist einer der lautesten Filme, die je produziert wurden, ohne Heimkinoanlage kriegt das nur niemand mit. Stattdessen geht der Kriegslärm ohne Umwege in den Kopf und das ist wahnsinnig interessant.

Während es den Tiefen, vor allem den Motorengeräuschen der Spitfires, an Bass und Dynamik mangelt, lassen sich Mitten und Höhen präziser wahrnehmen. Gerade das markante Ticken von Christopher Nolans Uhr, das den Takt der Musik von Hans Zimmer und Benjamin Wallfisch ununterbrochen vorgibt, fällt stärker ins Gewicht. Und eben jene Musik, die merklich mit der Schlachtakustik verschmilzt, wirkt dank der Direkteinspritzung organischer als über Boxen, wenn auch weniger satt.

Beim Bild hat der Netflix-Zuschauer das Nachsehen

Doch wie sieht es mit dem Bild aus? Hier muss der Handy-Zuschauer tatsächlich die meisten Abstriche machen. Unabhängig vom Gerät, also auch auf dem Fernseher, fällt die VOD-Version von Dunkirk visuell qualitativ stark von der Blu-ray ab.

Auf der Blu-ray sieht man das ganze Bild, Netflix zeigt nur den inneren Bereich.

Ob eine Einstellung auf 35 Millimeter-Film oder auf der großen IMAX-Kamera in 65 Millimeter gedreht wurde, merkt man gar nicht mehr. Das hat Gründe:

  • Netflix strahlt Dunkirk im Gegensatz zur Blu-ray in einem durchgängigen Seitenverhältnis aus. IMAX-Szenen werden nicht ohne Balken gezeigt, somit wird der ganze Film im breiten Cinemascope gezeigt .
  • Auch darüber hinaus geht der IMAX-Flair verloren: Eine Blu-ray hat rund 20 mal mehr Datenmengen als eine Streaming-Version. Dieser Verlust an Information ist sichtbar.
  • Das ästhetische Filmkorn ist nahezu nicht vorhanden, die gewohnte IMAX-Tiefenschärfe aus Nolans Filmen fehlt auf Netflix ebenso wie die feineren Details in der Struktur (zum Beispiel bei den Hauttönen).
  • Die wunderschönen, dokumentarisch anmutenden Aufnahmen wirken somit künstlicher. Der Schrecken des Krieges ist weniger immersiv.

Warum Dunkirk auch auf dem Handy genial ist

Tatsächlich lieferten mir diese Probleme aber eine Erkenntnis: Nämlich wie genial Dunkirk wirklich ist. Christopher Nolans brachiale Tour de Force ist so meisterhaft produziert, dass es selbst auf einem iPhone funktioniert. Auch bei meiner fünften Dunkirk-Erfahrung, die diesmal nur als Dunkirk-Lite daherkommt, zuckte ich zusammen, wenn ein deutscher Bomber einen Zerstörer der Navy versenkt.

Vor allem die inhaltlichen Aspekte kamen besser zur Geltung. Mehr denn je fiel auf, wie gut Nolan seine drei Zeitebenen tatsächlich verbunden hat, was auch dem Schnitthandwerk von Lee Smith zu verdanken ist. Viele kritisieren den Film für die nicht vorhandene Dramaturgie. Doch die ist allgegenwärtig, nur eben nicht in Form einer epischen Erzählung.

Dunkirk ist im Grunde eine 106-minütige parallelisierende Montage, ein Kunstwerk, das auch auf einem Handy bezaubert. Das spricht sehr für diesen Film, doch kann ich diese Methode zur Anschauung weiterempfehlen? Für alle, die eine technisch bessere Alternative haben: Ein ganz klares Nein. Dunkirk hat mehr als ein Handy verdient.

Dunkirk ist seit dem 19.06.2019 auf Netflix verfügbar.

Würdet ihr Dunkirk auch auf dem Smartphone schauen?

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