Neu bei Netflix: Dieser Bart ist so komplex wie Tenet

16.09.2020 - 10:25 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
Kenneth Branagh samt Schnurrbart in Mord im Orient ExpressDisney/Netflix
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Hercule Poirots Schnurrbart in Mord im Orient Express ist monströs, lächerlich und komplex wie Tenet. Bei Netflix könnt ihr das Stück jetzt selbst bewundern.

Haust da ein Frettchen auf der Oberlippe von Kenneth Branagh? Auch drei Jahre nach dem Kinostart von Mord im Orient Express beeindruckt und erschreckt der gewaltige Schnurrbart des heutigen Tenet-Bösewichts. Im Trailer für die Fortsetzung Tod auf dem Nil schlängelte sich dieser haarige Schauwert der Agatha Christie-Verfilmung kürzlich zurück ins Gespräch.

Dieser Schnurrbart ist gewaltig, lächerlich in seinem Größenwahn und doch irgendwie genial. Da Branaghs erster Einsatz als Hercule Poirot jetzt bei Netflix streamt, lohnt sich eine ausführliche Betrachtung dieser einzigartigen Gesichtsbehaarung. Wie wurde das Oberlippenfell erschaffen? Warum ist das monströse Etwas so groß? Und welche Rolle spielt es im Film? Durchkämmen wir diesen Bart (im übertragenen Sinne)!

Mord im Orient Express bei Netflix: Die Bärte von Hercule Poirot im Vergleich

Zunächst einmal: Hercule Poirot ist ohne Bart unvorstellbar. Schon im ersten Roman-Auftritt des belgischen Meisterdetektivs aus dem Jahr 1920 wird sein "steifer und militärischer" Schnurrbart erwähnt. Jeder Film- und Serien-Poirot steht und fällt seither mit der Interpretation des Erbsenfängers.

Im Clip bewundert Daisy Ridley den Tenet-artigen Schnurrbart:

Mord im Orient Express - Clip Schnurrbart (Deutsch) HD
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Doch normalerweise fallen diese Interpretationen eher dezent gekräuselt aus. Albert Finneys schauspielerische Detailgenauigkeit in Mord im Orient Express (1974) gipfelt in seinem geometrisch perfekt konstruierten Oberlippenbart.

Peter Ustinovs Gesichtsflausch in Tod auf dem Nil (1978) rundet dagegen eher seinen Gesamteindruck ab, als um Aufmerksamkeit zu ringen. David Suchets Bart in Agatha Christie's Poirot reckte sich indes über 20 Serien-Jahre lang süffisant in die Höhe.

Es gibt auch radikale Interpretationen. John Malkovichs Poirot-Bart in der düsteren Christie-Adaption The ABC Murders (2018) gehört dazu. Darin erhält der alternde Poirot seinen eigenen Zodiac-Killer. Unter dem Ermittlungs-Stress kollabiert die Gesichtsbehaarung.

Vier Poirots im Uhrzeigersinn: John Malkovich, Peter Ustinov, David Suchet, Albert Finney

In Sachen Breite, Länge und Design hat es bisher jedoch niemand mit dem jüngsten Kino-Poirot aufnehmen können. In Mord im Orient Express trägt Branagh einen barocken Bart von besorgniserregender Blasiertheit.

Ein Bart wie ein Christopher Nolan-Film: Versuch einer Beschreibung

Dieser Bart folgt den Konstruktionsprinzipien eines Christopher Nolan-Films. Auf den ersten Blick sieht er etwas verworren aus, auf den zweiten auch. Wir sehen weiße, graue und dunkelgraue Schattierungen, die sich von einer Seite des Gesichts zur anderen ranken, trennen und wieder vermischen.

Obwohl die Haare Isaac Newton zufolge nach unten zeigen sollten, tun sie das nicht. Äußerst diszipliniert folgen die invertierten Strähnen des Oberlippenbarts stattdessen entweder der linken oder der rechten Seite. Unter der Nasenspitze finden sie zusammen. Oder werden sie wie das rote Meer geteilt? Es ist eine Frage der Perspektive.

Gerade wenn ihr glaubt, den Bart in seiner Gänze zu verstehen, eröffnet sich eine ganz neue Ebene: Kenneth Branagh trägt in Mord im Orient Express zwei Bärte übereinander.

Der Bart in Branaghs bevorzugter Umgebung: einem schiefen Winkel

Für sich allein betrachtet sieht die obere Bartschicht fast schon generisch aus. Es ist sozusagen der James Bond-Film, der die entropischen Verwirrungen von Tenet beisammen hält. Der Oberbart hätte auch Peter Ustinov gut gestanden. Sein eskalierender Unterbau aber bedingt die verstörend komplexe Einzigartigkeit dieses Follikel-Konstrukts.

Das haarige Untergeschoss nimmt die Wellenbewegungen des Oberbarts auf und multipliziert sie. Die Welle verwandelt sich in eine Flut, sodass sich der Bart letztendlich so breit ums Gesicht schlingt wie das rote Lippenstift-Grinsen des Jokers in The Dark Knight.

Der Chin Puff, normalerweise das minimalistische Zünglein an der Bart-Waage, fällt entsprechend dick aus. Es lässt sich nicht anders beschreiben: Dieser Bart ist in jeder Hinsicht zu groß. Er überfordert den menschlichen Geist. Und das absichtlich.

Mord im Orient Express bei Netflix: Wie beschreibt Agatha Christie den Bart?

Kenneth Branagh, der den Film auch inszenierte, führte die Wahl in Interviews zurück auf die Krimis von Agatha Christie. In der Tat beschreibt die Autorin den Bart zum Teil als "gewaltig". Das kontrastiert allerdings auch ihre Vision von Poirots Körperbau.

Im Roman Mord im Orient Express finden sich nämlich folgende Sätze:

Obwohl Mary Debenham ganz andere Sorgen hatte, musste sie lächeln. Wie albern der kleine Kerl doch aussah! Einer dieser kleinen Männer, die man nie richtig ernst nehmen konnte.
Wie der Joker mit Schnurrbart aussehen würde? Googelt Cesar Romero!

Einen "eierförmigen", "kleinen" Mann sehen wir in der Neuverfilmung nicht, den gewaltigen Bart aber schon. In jedem Fall fehlt bei Christie die Beschreibung eines mehrschichtigen Haar-Kolosses, der das halbe Gesicht seines Trägers umarmt.

In Hercule Poirots Bart stecken neun Monate Arbeit

Ausgehend von dem "gewaltigen" Bart aus dem Büchern und den Ideen von Kenneth Branagh kreierte Make-up-Expertin Carol Hemming das einschüchternde Ungetüm. In rund neun Monaten grenzten Hemming und Branagh die Auswahl ein, suchten Vorbilder und landeten schließlich bei der doppelbödigen Schöpfung.

Zu den Inspirationen gehörte ein Astronom aus dem 16. Jahrhundert mit einem "fantastischen Schnurrbart" (via MakeupMag ) sowie die Bartmode aus dem Wilden Westen und dem Militär.

Das Ergebnis musste dann am Set in einer Art "Schnurrbart-Olympiade" (Hemming) so schnell wie möglich an Branaghs Gesicht angebracht werden. Der Regisseur und Star hatte schließlich noch anderes zu tun. In nur 17 Minuten soll der Schnurrbart-Pit-Stop gelungen sein, erklärte der Regisseur gegenüber Entertainment Weekly .

Der Astronom Tycho Brahe mit Bart

Branagh selbst bezeichnet den Bart im Interview mit dem Hollywood Reporter  übrigens als "lächerlich". Diese Übertreibung hat Methode.

Warum ist der Schnurrbart in Mord im Orient Express so groß?

Dieser Poirot ist vielleicht nicht klein und eierförmig und auch seine Nase sieht weit weniger spitz aus, als es Agatha Christie beschreibt. So richtig ernst kann man ihn beim ersten Eindruck aber trotzdem nicht nehmen. Die Schuld trägt der Bart.

Er wird "Teil von dem, was die Menschen verwirrt und provoziert", erklärt es Branagh gegenüber dem THR. Einerseits gibt das Gebilde Poirots neurotischer Genauigkeit einen visuellen Ausdruck. Andererseits lädt es dazu ein, den Träger falsch einzuschätzen. So wie die verwuschelten Haare und der zerknitterte Trenchcoat es bei Columbo tun.

Branagh dazu bei Empire (via Digital Spy ):

Poirot kann sich hinter dem einschüchternden Schnurrbart verstecken. Aber es ist auch so, wenn sich Leute über ihn lustig machen oder ihn belächeln oder nicht ernst nehmen, dass sie ihn unterschätzen und dadurch wird sein Job als Detektiv einfacher.

Mord im Orient Express bei Netflix: Was der Bart über den Film verrät

Im Grunde sieht der Bart also so übertrieben ernst aus wie mancher Film von - ach, lassen wir den Vergleich an dieser Stelle. Poirots Bart wirkt exzentrisch und ersetzt im Alleingang das, was Branaghs Darstellung an Schrullen vermissen lässt - gerade im Vergleich zum etwas linkischen Albert Finney.

Der heimliche Hauptdarsteller in der Nahaufnahme

Der Schnurrbart fügt sich durch seine geschwungenen Linien nicht nur perfekt ins Schneegestöber außerhalb der Zugfenster ein. Er passt zur pathetischen Stimmung, die Branagh als Regisseur heraufbeschwört. Immerhin versammelt sein Poirot die Verdächtigen in einem mörderischen, letzten Abendmahl. Auch darin unterscheidet sich der Film von anderen Christie-Adaptionen.

Dieser Poirot liebt die Ordnung und Genauigkeit. Er liebt seinen Bart und ganz besonders liebt er die große Geste. Das gewaltige Etwas auf seiner Oberlippe verrät dies lange, bevor er den Orient Express betritt.

Wir können gespannt sein, wo er die Verdächtigen in seinem nächsten Fall entlarvt. Ob sein eindrucksvoller Schnurrbart in den glitzernden Reflexionen des Nils erzittert? Der größte Schauwert von Tod auf dem Nil steht jedenfalls jetzt schon fest.

Mord im Orient Express steht jetzt allen Abonnenten von Netflix zur Verfügung. Die sehenswerte Verfilmung von 1974 gibt's derzeit bei Amazon Prime Video im Stream.

Was sagt ihr zum Schnurrbart von Kenneth Branagh in Mord im Orient Express?

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