Tag 9 - Gaspar Noés liebevoller 3D-Porno Love

22.05.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
"Findest du die Mise en Scène in The Assassin auch so toll wie ich?"Wild Bunch
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Gaspar Noé schockt mit dem pornografischen 3D-Film Love niemanden und Jacques Audiard verfolgt in Dheepan drei illegale Einwanderer aus Sri Lanka. Der beste Film des 9. Cannes-Tages kommt aber aus Rumänien.

Damit wir das hinter uns gebracht haben: Mit Love hat Gaspar Noé in Cannes tatsächlich einen 3D-Film mit nicht-simuliertem Geschlechtsverkehr vorgestellt. Und damit wir das auch hinter uns gebracht haben: Wenn der Zuschauer pornografische Sexszenen in Filmen nicht als Skandal auffasst, dann steckt in Love so wenig Skandal wie in Alles steht Kopf. Wobei Noé dem Pixar-Film einiges an Sperma und Selbstmitleid voraus hat. Die Liebesgeschichte eines angehenden Regisseurs mit einer Malerin nimmt Noé als Gelegenheit, die eigenen Dämonen auf die Leinwand zu bannen. Love ist ein persönlicher Film, in dem zwei Figuren Gaspar und Noé getauft werden, die eine ein Symbol der Liebe, die andere verhasstes Objekt der Eifersucht. Das taugt mitsamt der Sexszenen kaum zum geschmacks- und tabusprengenden Meisterwerk, das uns das Marketing verkaufen will. Einen interessanten 3D-Film hat Noé auf jeden Fall gedreht.

Außerhalb der Konkurrenz läuft Love und er beginnt, nachdem alles vorbei ist. Murphy (Karl Glusman) hat dank eines gerissenen Kondoms Frau und Kind, sehnt sich aber weiterhin nach Electra (Aomi Muyock), seiner großen Liebe. Der Anruf ihrer verzweifelten Mutter regt den jungen Mann an, sich per Opium an die guten alten Zeiten zu erinnern, was neben "Ich bin so ein Loser und ihr alle Scheiße"-Monologen in seinem Kopf den Großteil von Noés neuem Film ausmacht. Im Kommenden werden wir Zeuge des Niedergangs einer Beziehung, die mit guten Vorsätzen und hervorragendem Sex begann. Denn Noé lässt sich nicht lange lumpen. Der Sex zwischen Murphy und Electra, Murphy, Electra und einer Fast-17-Jährigen, Murphy und Party-Bekanntschaften, Murphy und Besucherinnen eines Swingerclubs usw. wird als Verkaufsargument Nummer 1 von Love inszeniert. Das ermüdet bei längeren Sequenzen (die Zuschauer, nicht die Partizipanten), wird von Noé aber als Visualisierung der Stadien dieser Beziehung genutzt. Denn, wie Electra einmal unsubtil erklärt, Liebe ist der Ort, an dem man bleiben will. In den glücklichen Tagen der eifrigen Kopulation fällt der 3D-Effekt nämlich kaum auf. Aus der Vogelperspektive sehen wir die plastischen Körper in flachen Arrangements, Intimität und Zärtlichkeit werden räumlich verdichtet. Das verschiebt sich schließlich, als Murphy die Beziehung ins fundamentale Ungleichgewicht bringt: Er will alles, sie soll nur ihn wollen. Auf einmal gewinnt der Sex an Härte und der Raum an isolierender Tiefe. Am Ende beeindrucken neben der Ehrlichkeit primär die handwerklichen Fährigkeiten, die in Love stecken (pardon!). Wäre der eifersüchtige Loser von einem Protagonisten ein interessanter eifersüchtiger Loser, hätte Love vielleicht ein richtig guter Film werden können. Aber, um Sorrentinos Youth zu zitieren: Er war immerhin gut im Bett.

Das Filmfestival in Cannes in 60 Sekunden: Du stehst seit einer Stunde in der Schlange für den neuen Miike (dazu morgen mehr) und hörst plötzlich Schreie. Aus einer Seitenstraße rechts von dir fliegt ein Schwarm Menschen heran. Paparazzi rennen mit Teleobjektiven rückwärts die Straße hinunter. Dahinter folgen kreischende Mädchen mit Smartphones im Anschlag und mittendrin gleitet Chris Brown auf einem IO Hawk  (wie ein Segway, nur Chris Brown-tauglich) über den unbeeindruckten Asphalt. Das Kreischen verschwindet um die nächste Ecke. Du blickst dem skurrilen Schauspiel nach, lächelst stolz in dich hinein, dass du diesen Chris Brown in deinem Alter erkannt hast, und sorgst dich gleichzeitig um den Männergeschmack französischer Teenager. Dein Blick schweift wieder auf die Schlange vor dir und du bemerkst geradeso, dass Zhao Tao, Ehefrau und verlässlich großartige Stammdarstellerin des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke, an der Schlange vorbeischlendert.

So in etwa fühlt es sich auch an, Love, Dheepan und The Treasure innerhalb weniger Stunden zu sehen. Jacques Audiard (Der Geschmack von Rost und Knochen) verfolgt in Dheepan drei Einwanderer aus Sri Lanka, die in einem Pariser Banlieue eine Familie improvisieren müssen. In den ersten Minuten muss der Soldat Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) während des Bürgerkriegs in Sri Lanka einen Berg Leichen verbrennen. Dass ihr neuer Hausmeister weit grauenhafteres als sie gesehen und getan hat, können sich die Drogenkuriere und Kleingangster in einer heruntergekommenen Pariser Vorstadt kaum vorstellen. Dorthin kommt Dheepan mit Yalini (Kalieaswari Srinivasan) und Illayaal (Claudine Vinasithamby), um für die Aufenthaltsgenehmigung Familie zu spielen. Das einzige, was sie gemeinsam haben: Der Bürgerkrieg hat ihnen alles genommen. Weil Jacques Audiard Jacques Audiard ist, mag er sich mit einer erhellenden Innenansicht des Einwandererlebens in Frankreich nicht begnügen und fährt im dritten Akt alle Killer- und Kitsch-Geschütze auf. Das lässt einen die Stärke des im Übrigen facettenreichen Dramas nicht vergessen, mit dem Audiard wieder in den filmischen Gewässern von Ein Prophet fischt.

Ganz anders der zweite rumänische Beitrag, der beim diesjährigen Festival de Cannes in der Sektion Un Certain Regard gezeigt wurde. Nach dem Thriller-Moralstück One Floor Below von Radu Muntean wird in The Treasure von Regisseur Corneliu Porumboiu (Police, Adjective, Al doilea joc - The Second Game) ein köstliches Stück absurden Humors serviert, das ebenfalls in einer moralischen Pointe gipfelt. Wie zwei Nachbarn mitten in der Nacht mit einem Metalldetektor-Fachmann einen Garten umgraben, um einen Schatz zu finden, gerät in den langen, kargen Einstellungen zum Quell der Situationskomik. Schon der quengelig jaulende Metalldetektor wird in The Treasure zum komödiantischen Nebendarsteller allererster Güte, der sich durch sein erstklassiges Timing für weitere Rollen als Metalldetektor empfiehlt. So findet Poromboius Drehbuch die Komik in den Hindernissen und Absurditäten des Alltags, in Bürokratie, Technik oder dem Wunsch zweier erwachsener Männer, nach einem Schatz zu graben. Chris Brown spielt zum Glück nicht mit.

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