Thunderbolts* beginnt mit einem Sprung ins Ungewisse: Florence Pugh stürzt sich als Yelena Belova vom zweithöchsten Gebäude der Welt stürzt. Im ersten Teil unseres Interviews mit Regisseur Jake Schreier haben wir über alle Details gesprochen, die geklärt werden mussten, um einen lebensgefährlichen Stunt wie diesen durchzuführen. Doch was beschäftigt Yelena wirklich, wenn sie da oben auf dem Dach steht?
Der neue Marvel-Film ist nicht nur an Schauwerten und Action interessiert, sondern fragt sich auch, wie es den titelgebenden Antiheld:innen in ihrem Inneren geht. Wie erzählt man im Blockbuster-Kontext von Depressionen? Wie sieht der Bösewicht einer solchen Geschichte aus? Und lassen sich die zerrissenen Gefühle auf visueller Ebene spiegeln? Darüber und mehr haben wir mit Jake Schreier gesprochen.
Moviepilot: Thunderbolts* spricht einige ernste Themen an, die man in einem Blockbuster dieser Größenordnung selten findet, etwa Suizid und Depression. War es schwer, das in einen Marvel-Film zu integrieren?
Jake Schreier: Ich war sehr erstaunt darüber, wie offen Marvel für diese Themen war. Ich habe sehr oft mit [Marvel-Chef] Kevin [Feige] und [Produzent] Lou [D'Esposito] darüber gesprochen habe, weil ich mit Thunderbolts* eine Geschichte erzählen wollte, die sich von anderen Marvel-Filmen unterscheidet. Vieles davon kam auch von [Drehbuchautor] Lee Sung Jin, der schon bei [der Netflix-Serie] Beef mit düsteren Themen gearbeitet hat, ohne dabei auf Humor zu verzichten – und das wollte ich auch für Thunderbolts*.
Wir lernen die humorvolle, aber auch die ernste Seite der einzelnen Team-Mitglieder kennen. Denn genau so ist es im echten Leben auch. Manche Menschen hadern mit den gleichen Gedanken wie die Figuren im Film. Gleichzeitig sind sie die witzigsten Menschen, die du kennst. Du weißt trotzdem nicht, was sie gerade innerlich durchmachen. Das war für mich einer der Knackpunkte des Films. Um das überzeugend im Film rüberzubringen, mussten alle Emotionalen aufrichtig sein.
Eines der stärksten Bilder ist für mich, wenn sich die innerliche Leere der Figuren als schwarzes Nichts in der Stadt ausbreitet. The Void schwebt darüber und ist selbst kaum mehr als eine Silhouette. Wie seid ihr darauf gekommen?
Kevin hatte mich gefragt, wie wir The Void filmisch noch ein bisschen ungewöhnlicher gestalten können. Wäre es möglich, dass er wie ausgeschnitten aussieht? Wir wollten eine einfache, klare und trotzdem interessante sowie unerwartete Form. Das war gar nicht so einfach. Bei den Dreharbeiten haben wir diesen Effekt nicht hingekriegt. Also haben wir uns an die VFX-Häuser gewandt, mit denen Marvel schon oft zusammengearbeitet hat.
Die meisten Vorschläge waren aber zu nah an anderen Filmen. Ich wollte, dass wir uns noch ein Stück weiter aus dem Fenster lehnen. Außerdem durfte die Erscheinungsform von The Void nie eine komplette Silhouette werden. Doch wie viel enthüllen wir von seiner menschlichen Gestalt? ILM hat schließlich mit Techniken wie Rotoscoping und sehr feinen Texturen wirklich außerordentlich gute Arbeit geleistet.
[The Void-Darsteller] Lewis [Pullman] darf allerdings nicht vergessen werden. Er erweckt die Figur am Set zum Leben. Wir haben sorgfältig abgewogen, was wir von ihm behalten und was wir durch CGI ersetzen. Selbst wenn man ihn am Ende nicht mehr sieht, liefern sein Körper, seine Mimik und Gesten die Grundlage für alle computergenerierten Effekte. Es steckt also sehr viel von seiner Performance in dem Film, sogar seine Augen haben wir übernommen, um diese abstrakte Figur ein Stück echter wirken zu lassen.
Thunderbolts* kommt vor allem in blau-grauen Bildern daher. Kannst du erzählen, was deine Gedanken hinter dem Look des Films waren?
Ich begrenze die Farbpalette meistens schon bei den Dreharbeiten in der Kamera, sodass man danach nicht alles entsättigen muss, um die Hauttöne lebendig und warm wirken zu lassen. Bei Thunderbolts* hatte ich zudem das Gefühl, dass es sehr gut zu der Geschichte passt. Es geht um eine große Dunkelheit, die alles verschlingt. Gleichzeitig wollte ich Raum für Humor schaffen. Ich weiß, das wird mir im Internet niemand glauben, aber wenn man sich die Bilder wirklich anschaut, stecken da sehr viele Farben drin.
Bereits die Sets wurden mit einem genauen Blick auf die Farben entworfen, die wir später im Film haben wollten. Vom Produktionsdesign bis zu den Kostümen – hier wurden viele Entscheidungen getroffen, um die Farbpalette in der Kamera zu kontrollieren. Der Fokus waren natürlich die Figuren. Was sagt uns dieser Farbton über ihr Innenleben? Immerhin wollten wir ganz tief zu ihnen vordringen und in ihr Unterbewusstsein eintauchen.
Bei diesen Szenen im Unterbewusstsein musste ich als Erstes an die Marvel-Serie Legion denken, die sich auch über weite Strecken im Kopf der Hauptfigur abspielt. Was waren deine filmischen Inspirationen für den Film?
Christopher Nolan war ein Name, der in unseren Gesprächen immer wieder auftauchte. Seine Filme sind unglaublich gut gemacht und finden eine großartige Balance zwischen Bodenständigkeit und Abstraktion. Das war auf jeden Fall ein wichtiger Orientierungspunkt für uns. Metaphysische Sequenzen hat es aber auch schon im MCU gegeben, wenn wir uns Black Panther anschauen. Wie können wir uns davon abheben?
So sind wir bei Filmen aus den 1990er und frühen 2000er Jahren gelandet – Spike Jonze und Michel Gondry wären da ein paar Namen, die ich dir nennen kann. Die hatten einen handgemachten, sehr taktilen Zugang zu surrealen, metaphysischen Dingen in ihren Filmen. Das schien uns ein frischer Ansatz für das Marvel-Universum zu sein. In unserem Film dreht sich alles um das Innenleben der Figuren, also etwas sehr Menschliches. Und das wollten wir in der Machart des Films widerspiegeln.
Thunderbolts* erzählt dennoch von moralisch ambivalenten Figuren, die in der Vergangenheit einige üble Sachen getan haben. Was ist deine Taktik als Regisseur, damit wir im Kino trotzdem mit ihnen mitfiebern können?
Ich mache mir viele Gedanken darüber, was ich zeige und was ich nicht zeige. In Yelenas Flashback passieren zum Beispiel Dinge, die ich nicht komplett ausformulieren wollte und sie deswegen nur angedeutet habe. Wie viel Gewalt ist notwendig, damit das Publikum die Charakterentwicklung nachvollziehen kann? Und ab welchem Punkt verkommt die Gewaltdarstellung zum Selbstzweck? Ich bin da sehr vorsichtig.
Am Set haben die Leute sogar über meine Empathie gegenüber Handlangern gescherzt. Denn ich lasse sie ungern einfach so sterben. Yelena schießt in einer Szene einem Handlanger ins Bein. Theoretisch könnte man sagen, sie hat ihn erschossen, aber es besteht die Möglichkeit, dass er überlebt. Das macht für mich einen großen Unterschied aus. In gewisser Weise war ich derjenige, der die Produktion am meisten gebremst hat, wenn es um die Kompromisslosigkeit der Gewaltdarstellung ging.
Ein letzter Punkt, der mich noch interessiert: Du arbeitest wieder mit Son Lux zusammen, die schon den Soundtrack zu Margos Spuren komponiert haben. Welche Rolle spielt die Musik in dem Film?
Wir wollten Leute ins Boot holen, die noch nie zuvor im MCU gearbeitet haben und eine frische Perspektive mitbringen. [Son Lux-Frontmann] Ryan [Lott] und Co. hatten zuletzt bei Everything Everywhere All at Once gezeigt, dass sie einen epischen Film mit vielen schwierigen Themen durch ihre Musik zusammenhalten können. Da lag die Wahl nahe. Und wie du gesagt hast: Ich kannte sie schon von Margos Spuren.
Das Tolle an unserer Zusammenarbeit dieses Mal war, dass sie viele Stücke schon vor den Dreharbeiten geschrieben hatten. Sie schickten mir Entwürfe mit Themen und Motiven, die jetzt auch im fertigen Film sind. Sogar beim Table Read konnten wir erste Auszüge aus dem Soundtrack spielen. Und später beim Dreh nutzten wir die Musik, damit sich die Schauspielenden leichter in ihre Figuren hineinversetzen können.
Als der Film in den Schnitt ging, konnten wir auf eine riesige Musikbibliothek zurückgreifen. Normalerweise werden solche Filme immer zu Temp Music geschnitten, die als Grundlage für die eigentliche Filmmusik dient. Wir hatten aber von Anfang an unsere eigene Musik. Alles, was du in Thunderbolts* hörst, ist aus echter Inspiration entstanden und keine Kopie. Wir wollten nicht, dass der Film wie jeder andere Action-Blockbuster klingt, um die ungewöhnliche Geschichte der Figuren zu untermauern.
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Thunderbolts* läuft seit dem 1. Mai 2025 in den deutschen Kinos.