„Heute bist Du der Erste, geachtet von Allen, ein Minister, ein General, vielleicht sogar ein Fürst – Weißt Du, was Du morgen bist?!“, so steht es im Vorspann zu Der letzte Mann. Die Botschaft dieses Filmes aus dem Jahre 1924 hat ihre Aktualität nicht verloren. Vielleicht wissen wir heute sogar noch weniger als vor neunzig Jahren, wie es uns in naher oder ferner Zukunft ergehen wird. Eigentlich ist das aber auch gar nicht so schlecht: Etwas Spannung kann nämlich nie schaden. Das Meisterwerk von F.W. Murnau ist dafür das beste Beispiel.
Vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit
Berlin ist die beste Stadt der Welt, so viel ist ja wohl mal klar. In den Zwanziger Jahren war die kleine Metropole außerdem die deutsche Filmhauptstadt. Hier entstanden Werke wie Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene oder Der Golem, wie er in die Welt kam von Paul Wegener, die die Stilrichtung des Deutschen Expressionismus in der ganzen Welt berühmt machten. Lang hielt diese Phase aber nicht an. Bereits Mitte der Zwanziger wurden die Kulissen wieder etwas dezenter und die sogenannte Neue Sachlichkeit machte sich breit. An dieser Übergangsschwelle entstand Der letzte Mann.
Der beleibte Emil Jannings spielte darin einen alternden Hotelportier, dessen schneidige Uniform sein ganzer Stolz ist. Als er seines Amtes plötzlich enthoben wird, beginnt er ein Doppelleben. Mit der Schmach, von nun an in der schmucklosen Herrentoilette des Hotels zu arbeiten, kann er nicht leben. Was auf den ersten Blick nach einer banalen Geschichte klingt, ließ F.W. Murnau zu einem wahren visuellen Erlebnis werden.
Action am Filmset
Obwohl ein Stummfilm, kam der – in restaurierter Fassung immerhin 101 Minuten lange – Streifen fast völlig ohne Zwischentitel aus. Stattdessen entwickelte Murnau die Story um seinen gefallenen Helden mit einer ausgekochten Bildsprache, die den Betrachter sogar bei heutigen Sehgewohnheiten noch staunen lässt. Um eine größere Bandbreite bildgestalterischer Möglichkeiten zu bekommen, befreite er gemeinsam mit seinem Kameramann Karl Freund die Kamera von ihrem Stativ und etablierte so eine Aufnahmetechnik, die als ‘entfesselte Kamera’ in die Filmgeschichte einging.
An diesem Filmset hätte ich nur allzu gern einmal Mäuschen gespielt. Um Zigarettenrauch mit der Kamera zu verfolgen, wurde diese an eine bewegliche Feuerwehrleiter geschnallt. Auf einem Fahrrad schob Karl Freund seinen vergleichsweise kompakten Stachow-Filmer in den fahrenden Aufzug und durch die Hotelhalle bis zur pompösen Drehtür. Wenn das mal nicht die erste Eröffnungs-Plansequenz der Filmgeschichte war; eine ziemlich markante Veränderung gegenüber den vorherigen Schwenks statischer Riesenkameras.
Und noch eine Besonderheit zeichnete die Kameraarbeit in Der letzte Mann aus: erstmals nahm das Aufnahmegerät den subjektiven Standpunkt einer der Figuren ein. Der engagierte Karl Freund schnallte sich die Kamera vor die Brust und ahmte das Torkeln von Emil Jannings nach, um den Gefühlen des gebrochenen Hotelportiers besonderen Ausdruck zu verleihen.
Das Rad der Zeit dreht sich weiter
Das Prinzip der beweglichen Kamera fand schnell ambitionierte Nachahmer. Für sein Epos Napoleon ließ Abel Gance 1927 seine Kamera auf einer Schaukel über die Masse an Statisten schwingen, und in der darauf folgenden Dekade wurde Alfred Hitchcock mit aufwendigen und raumfüllenden Kamerabewegungen berühmt-berüchtigt. Plansequenzen wurden zu einem beliebten und beeindruckenden Stilmittel, und Erfindungen wie die Handkamera, Dollys und die Steadicam erleichterten den Dreh erheblich.
Heute nutzt quasi jeder Film die ‘entfesselte Kamera’ à la F.W. Murnau und Karl Freund. Nur haben sich Zoom, Schwenks und rasante Kamerafahrten mittlerweile so zur Selbstverständlichkeit entwickelt, dass niemand mehr die Entfesselung der einst so starren und bewegungslosen Kamera extra betont. Es ist eben, wie der Vorspann von Der letzte Mann bereits andeutete: Das Rad der Zeit dreht sich immer weiter, unaufhaltsam. Es wird spannend zu sehen, was als Nächstes kommt.
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1924 bewegte:
Sechs Filmleute, die geboren sind
25. März 1924 – Machiko Kyô, Vergewaltigungsopfer aus Rashomon – Das Lustwäldchen
03. April 1924 – Doris Day, singende Ehefrau aus Der Mann, der zuviel wußte
03. April 1924 – Marlon Brando, der alte Patriarch in Der Pate
25. Juni 1924 – Sidney Lumet, Regisseur von Die zwölf Geschworenen
28. September 1924 – Marcello Mastroianni, Regisseur in der Schaffenskrise aus Achteinhalb
04. Oktober 1924 – Charlton Heston, israelitischer Prinz Ben Hur
Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
Clark Gable in White Man von Louis J. Gasnier
John Gielgud in Who is the Man? Von Walter Summers
Johannes Heesters in Cirque hollandais von Theo Frenkel
Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
The Sea Hawk von Frank Lloyd
He Who gets Slapped von Victor Sjöström
Mädchenscheu von Fred C. Newmeyer und Sam Taylor
Drei wichtige Ereignisse der (Nicht-)Filmwelt
21. Januar 1924 – Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin stirbt in Gorki bei Moskau
30. August 1924 – In Deutschland wird die Reichsmark eingeführt
20. Dezember 1924 – Adolf Hitler wird vorzeitig aus der Festungshaftanstalt Landsberg am Lech entlassen