1925 - Die sowjetische Montage-Revolution

21.05.2012 - 08:50 UhrVor 13 Jahren aktualisiert
Attraktionsmontage in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin
Goskino / moviepilot
Attraktionsmontage in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin
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Was wäre ein Film ohne guten Schnitt? Und was wäre der Schnitt ohne den Einfluss der Russen? Sergej Eisenstein revolutionierte schon früh die Art, mithilfe geschickter Montage Schocks zu produzieren.

Stellt euch folgendes vor: Ihr geht ins Kino. Ihr kauft eine Karte, entscheidet euch zwischen salzigem und süßem Popcorn, findet euren Platz, verjagt einen Konkurrenten, der seine Platzkarte nicht richtig lesen konnte. Ihr macht es euch bequem, übersteht den langen Werbeblock, alles wie immer, alles ist gut. Und gerade als ihr dazu ansetzen wollt, den Arm vorsichtig tastend um eure Begleitung zu drapieren – WUMMS – geht unter eurem Sitz ein Feuerwerkskörper hoch. Das klingt wie ein absurder Traum? Nun, aber genau das war der Plan von Sergei M. Eisenstein.

Wahnsinn mit Methode
Der Mann, der so aussah, als hätte jemand auch einen Feuerwerkskörper in seinem Haar platzen lassen, war zunächst ein sowjetischer Theaterregisseur. Seine Inszenierungen dürften alles andere als langweilig gewesen sein, holte er doch Fechtkämpfer, Artisten, Tänzer und als Erster sogar Filmprojektionen auf die Bühne. Sein Wahnsinn hatte dabei Methode: Sensationelle Darbietungen sollten das Publikum schocken, aus der passiven Zuschauertrance reißen, und es so zum selbstständigen Denken zwingen.

1924 modelte er sein Konzept schließlich auf den Film um. Hier war es der Schnitt, der den Schockeffekt beim Betrachter auslösen sollte. Mit gutem Beispiel ging er voran und schnitt für sein Werk Streik Aufnahmen eines brutal niedergeschlagenen Arbeiteraufstandes mit Szenen einer Rinderschlachtung parallel. Wäre es nach Sergei M. Eisenstein gegangen, hätten auch noch andere Überraschungen den Kinobesucher ereilt – wie eben die Feuerwerkskörper unter den Sitzen. Der neue Schnitt war allerdings schon Innovation genug und ab sofort unter dem Namen Attraktionsmontage bekannt.

Ein perfekt montiertes Massaker
Eisensteins bis heute bekanntestes Werk Panzerkreuzer Potemkin entstand nur ein Jahr später. Der noch stumme Revolutionsfilm bezog sich locker auf die russische Revolution 1905 und zeigte die Meuterei auf einem Kriegsschiff. Alexander Antonow spielte als Anführer der meuternden Matrosen eine tragische Sterbeszene und sorgte mit seinem filmischen Ableben für große Solidarität unter den Bewohnern der Stadt Odessa.

Der grausame Höhepunkt des Dramas vergrub sich in das filmische Gedächtnis: Die Armee des Zaren läuft in einer endlosen Sequenz die breite Treppe von Odessa hinunter und massakriert die versammelten Menschen. Alte, Mütter mit ihren Kindern, wie perfekt programmierte Tötungsmaschinen kommen sie näher. Bei all der Dramatik ist es tatsächlich vor allem der Schnitt, der die Schockmomente entstehen lässt. Unvergessen ist der nahe Anblick einer Frau mit den Scherben ihrer Brille im Auge oder ein langsam die Treppe herabstürzender Kinderwagen.

Alles ist Manipulation!
Mit seinen revolutionären Ideen blieb Sergei M. Eisenstein natürlich nicht lange allein. Viele seiner Landsmänner übernahmen sein Interesse für die Montage, und so kam es bald zu dem Experiment, das wir noch heute als Kuleschow-Effekt kennen. Der gleichnamige Regisseur setzte Iwan Mosschuchin vor die Kamera und kombinierte die Nahaufnahme seines Gesichts mit Einstellungen auf einen Suppenteller, die Leiche eines kleinen Mädchens und eine halbnackte Schöne auf einem Diwan. Der Schauspieler verzog keine Miene. Das Publikum war allerdings fest davon überzeugt, in seinem Gesicht Hunger, Trauer und Begehren entdecken zu können. Der Schnitt eignete sich hervorragend zur Manipulation, so viel stand spätestens jetzt fest.

Die Russen kommen
Die russischen Formalisten wollten mit ihren Bildern die sozialistische Gesellschaft in Szene setzen – da konnte ein wenig Manipulation nicht schaden. Und so kam aus den experimentellen Anfängen schnell eine ganze Bewegung zustande. Sogar ein Manifest mit dem Namen Kinoprawda entstand, in dem es hieß: „Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlanksten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdruckvollsten Kopf und schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.“

Der Filmemacher Dziga Vertov kombinierte schließlich am Schneidetisch Aufnahmen aus Kiew, Odessa und Moskau zur Utopie einer idealen Stadt und nannte seinen so entstandenen Dokumentarfilm Der Mann mit der Kamera. Für ein Festival in Porto komponierte die britische Band The Cinematic Orchestra 2000 eine neue Musik für den Klassiker und spielte sie live während der Vorführung. Fehlten nur noch die Feuerwerkskörper.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1925 bewegte:

Sechs Filmleute, die geboren sind
26. Januar 1925 – Paul Newman, Brick aus Die Katze auf dem heißen Blechdach
21. Februar 1925 – Sam Peckinpah, Regisseur von Western wie The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz
10. November 1925 – Richard Burton, Partner von Elizabeth Taylor in Wer hat Angst vor Virginia Woolf? und auch im Privatleben
27. November 1925 – Claude Lanzmann, Regisseur von Shoah
27. Dezember 1925 – Michel Piccoli, Unzufriedener Drehbuchautor in Die Verachtung
28. Dezember 1925 – Hildegard Knef, Spelunken-Jenny aus Die Dreigroschenoper

Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
Gary Cooper in The Thundering Herd von Henry Hathaway
Joan Crawford in Lady of the Night von Monta Bell
Myrna Loy in What Price Beauty? von Tom Buckingham

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Die große Parade von King Vidor
Ben Hur von Fred Niblo
The Plastic Age von Wesley Ruggles

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
27. Januar 1925 – Die NSDAP wird in München neu gegründet und deutschlandweit organisiert
Juli 1925 – Adolf Hitler veröffentlicht Mein Kampf
01. Dezember 1925 – Die Verträge von Locarno werden in London unterzeichnet

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