(Wer das Spiel noch nicht kennt, sollte es unbedingt spielen oder sich mein hausgemachtes Let's Play dazu ansehen, bevor er meinen Text liest! Ich empfehle es auf jeden Fall!)
Max und ihre Kamera
Die erste Episode von Life is Strange versteht sich in erster Linie als Einführung in das Leben von der Protagonistin Max Caulfield. Vor ein paar Wochen zog sie zurück in ihre Heimatstadt, nur um an einem Kurs über Fotographie bei der Ikone Mr. Mark Jefferson teilzunehmen. Sie liebt es Selfies mit ihrer alten Polaroid-Kamera zu machen. Sie verbindet einen Trend der Neuzeit mit einem eigentlich vergangenen Medium. Sie ist ein Mensch, der dadurch bereits eine besondere Form der Zeitbrücke schafft, wenn man so will ein kleines Paradoxon. Sie liebt es Bilder einzufangen, die Zeit metaphorisch einzufrieren und sie für immer an ihrer Wand festzuhalten. Vergangenheit bleibt für immer in der Gegenwart auch in der Zukunft.
Max lebte schon einmal in dieser Stadt, in ihrer Kindheit
hat sie die meiste Zeit mit ihrer besten Freundin Chloe verbracht. Nach ihrer
Rückkehr meldet sie sich nicht sofort bei ihr, zu sehr haben sie sich bisher in
ihren Augen voneinander getrennt. Freunde hat Max kaum bis gar keine, zu sehr
hält sie sich aus dem Leben anderer heraus. Sie ist still, in sich gekehrt und
steht auf alte Filme, hört die richtige Musik.
Sie stellt sich selbst in die Rolle des Außenseiters, ist von ihrer eigenen Kunst nicht wirklich überzeugt und will eigentlich gar nicht im Rampenlicht stehen. Doch dieses Leben ändert sich schlagartig, als sie auf der Mädchentoilette ihrer Schule einen Mord beobachtet.
Noch einmal, bitte
Doch der Mord findet eigentlich gar nicht statt, weil Max aus einem unerklärlichen Grund plötzlich das Geschehene verhindert, zurückspult und wieder von vorne beginnen lässt. Eben noch aus dem Unterricht in die Pause, schon sitzt sie wieder in der Klasse. War das nur ein Traum? Dafür war es zu real, zu wirklich. Das Geschehene wiederholt sich, die gleichen Fragen des Lehrers, die gleichen bösen Blicke der gehassten Victoria. Wieder schnell aufs stille Örtchen und wieder kommt es fast zu der Hinrichtung im Mädchenklo, doch diesmal kann Max eingreifen. Das Szenario erinnert einen an einen typischen Roman von Stephen King, in dem ein Outsider plötzlich merkt, dass er übernatürliche Kräfte besitzt. Tatsächlich finden wir im Spiel einige Anspielungen auf den berühmten Meister des Horrors, etwa wenn wir das Zimmer 217 finden oder Cujo beobachten.
Und wer wünscht sich nicht diese Fähigkeit? Einen Fehler wieder
gut machen, eine Entscheidung überdenken und doch die andere Möglichkeit
wählen. Das Spiel stellt uns immer wieder vor solche Entscheidungen und Handlungen.
Sollen wir dem Direktor von dem Verrückten mit der Waffe erzählen oder besser
nicht? Sollen wir unsere Zimmerpflanze wässern oder es lieber rückgängig
machen? Welcher Weg letzten Endes der richtige ist, scheint trotz unserer
unglaublichen Macht nicht zu erkennen, wir können lediglich versuchen mit Logik
die beste Option zu wählen.
The Butterfly Effect
So klein und unwichtig Max Entscheidungen auch aussehen, trotzdem können sie eine wahre Naturgewalt nach sich ziehen. Der Gedanke des sogenannten „Butterfly Effects“ wird aufgegriffen, welcher simpel ausgedrückt besagt, dass der Flügelschlag eines einzelnen Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas verursachen kann. Wissenschaftlicher formuliert, entspringt er der Chaos-Theorie und beschreibt die „Sensitivität gegenüber einer Änderung der Anfangsbedingungen“ . Demzufolge führt die Änderung einer zuvor bestehenden Sache immer zu einem unbekannten Ergebnis. Unbekannt deswegen, weil die Handlungskette durch das Chaos bestimmt wird, was zwar Möglichkeiten der Vorahnung bietet, jedoch nie wirklich zum gewünschten Ende führen kann. Du entscheidest dich heute Mal ein Stück Pizza mehr zu essen? Nun, du könntest zunehmen oder vielleicht ist dieses Stück der Nagel zu deinem Sarg. Du nimmst heute ausnahmsweise mal einen Bus eher zur Arbeit? Nun, du bekommst eine Beförderung oder die Welt geht deswegen ganz einfach unter!!!
Naja gut, so drastisch wird es wohl doch nicht sein, aber lässt es sich ausschließen? Laut dem Schmetterlingseffekt (Butterfly Effect klingt cooler, oder?) leider nicht.
Doch zurück zu unserem Spiel, wo wir ebenfalls einen Schmetterling zu Gesicht bekommen, eine Metapher, die uns sanft aber sicher auf die richtige Thematik der Zeitverschiebungsproblematik hinweisen soll. Natürlich haben wir hier und dort einige kleinere Entscheidungen getroffen, die vielleicht nicht ganz klug waren, deren Einflüsse für den weiteren Story-Verlauf vorerst unklar bleiben. Doch welche Macht besitzt eigentlich die allererste Veränderung der Realität? Die Rettung Chloes? Genau wissen wir es nicht, doch der herannahende Sturm, welcher sich letzten Endes als Vision der Zukunft entpuppt, könnte eventuell ein Resultat dessen sein, dass Chloe immer noch lebt, obwohl sie eigentlich tot sein müsste. Als Erklärung für diesen Gedanken möchte ich kurz erinnern, wann der Schmetterling, der Beginn der Zeitreisethematik, im Spiel erscheint. Nämlich kurz bevor Max Chloe das erste Mal wieder sieht.
Der Zeitpunkt scheint interessant gewählt, scheinbar besitzt der Schmetterlingseffekt eine besondere Macht auf Chloe. Eine weitere Verbindung ist die Farbe Blau, welche sowohl der Schmetterling mit aller Kraft ausstrahlt, als auch durch Chloes unverkennbare Haarpracht jedem ins Auge gepfeffert wird. Blau, wie der Ozean, von dem aus der Hurrican naht. Ok, dieser Punkt ist etwas zu überanalysiert, trotzdem steht die Verbindung fest, Chloes Überleben besitzt einen wichtigen Einfluss auf den weiteren Verlauf der gesamten Handlung. Ob es letzten Endes wirklich der Sturm sein wird, kann man nicht mit Gewissheit sagen, doch wäre es zuletzt nicht die ultimative Entscheidung, wenn Max Chloe opfern müsste, nur um die Stadt zu retten?
Solche dramatischen Resultate der Zeitveränderung haben wir bereits im Film Butterfly Effect gesehen oder ich erinnere an dieser Stelle auch gerne an den Mindfuck Donnie Darko, wo das Überleben des namensgebenden Protagonisten tatsächlich für die Entstehung eines schwarzen Lochs verantwortlich zu sein scheint. Abwegig ist meine These also ganz und gar nicht.
Chrysalis ist somit die erste von fünf weiteren Episoden,
welche eine mögliche Richtung präsentiert, doch Chaos-Theorie sei Dank, kann
noch so viel mehr geschehen. Meine Theorie könnte verblassen wie der
Flügelschlag eines Schmetterlings im Wind. Das Wort Chrysalis bezeichnet
nebenbei eine Puppe, einen Kokon, aus dem später z.B. ein Schmetterling
entstehen wird. Tatsächlich entpuppt die Folge so einiges, manchmal direkt und
unverfroren, manchmal nach und nach, sodass noch nicht ganz klar ist, was den Kokon
am Ende verlassen wird.
Auch Max und ihre Fähigkeit entpuppen sich, da sie diese hier das erste Mal erkennt und benutzt. Max geht ebenfalls aus sich heraus, sie spricht nun mehr mit Leuten, versucht neue Freunde zu gewinnen und anderen mit ihrer Macht zu helfen.
In einer kleinen Stadt
All diese noch ungeklärten Geschichten und Handlungen verlassen mit Max Auftreten ihren Kokon, doch bleiben, wie schon erwähnt, zu Beginn noch unentwickelt. Sie strecken quasi langsam die ersten Beinchen aus der schützenden Hülle, bleiben weitestgehend jedoch noch unbenennbar.
Max findet heraus, dass ihre Mitschülerin Kate scheinbar an einer pornographischen Aufnahme beteiligt war, deswegen gemobbt wird und sich selbst fertig macht. Max versucht sie zu unterstützen, macht sie sich zur Freundin. Dadurch gerät sie jedoch in den Blick von Chloes Stiefdad, der als alter Soldat und Schulaufsicht Kate scheinbar verfolgt und erpressen will. Mit dem Porno? Oder gibt es da noch andere Geheimnisse? Möglich wäre einiges, denn der Mann leidet scheinbar unter einem Kontrollzwang, er will alles und jeden mit Kameras beobachten und kontrollieren, angefangen im Haus seiner neuen Familie.
Über Chloes gefährliches Leben muss ich nicht allzu viele Worte verlieren. Der Verrückte mit der Waffe hat sie schon einmal umgebracht, sicherlich wird er es wieder versuchen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die aufmüpfige Punkerin erneut in Lebensgefahr schwebt oder wieder von Psycho mit seiner Knarre bedroht wird. In welche Machenschaften sind er und seine mächtige Familie wohl noch verstrickt? Etwa in das Verschwinden von Chloes ehemals bester Freundin Amber, die ein Verhältnis mit dem tollen Fotografie-Prof hatte? Die entweder jeder total mochte oder total gehasst hat? Diese Handlung erinnert leicht an die Serie Twin Peaks von David Lynch: ein ungeklärtes Verbrechen, eventuell ein Mord, in einer nach Außen scheinbar idyllischen Kleinstadt. Doch wenn man tiefer gräbt, und das werden wir mit Sicherheit noch machen, dann erkennt man, welch Dreck sich unter der makellosen Oberfläche verbirgt. Wenn man in einer bestimmten Szene sich Chloes Nummernschild genau ansieht, erkennt man, dass ich mit dieser Verbindung gar nicht so falsch liege. Zudem gibt es noch einige weitere Charaktere, die einem jetzt vielleicht noch nicht so sehr ins Auge gefallen sind, eventuell aber später durchaus eine wichtige Rolle spielen werden, wie etwa der merkwürdige Hausmeister oder Max cooler Freund und Verehrer Warren oder der Schuldirektor oder...
Letzten Endes sorgt Chrysalis dafür, dass die Protagonisten auf dem Schachbrett in ihren jeweiligen Positionen, wie unklar sie auch noch sein mögen, sauber platziert werden. Alle mit ihren Geheimnissen, alle mit ihren indirekten Einflüssen auf den herannahenden Sturm, welchen wir von dem eigentlich schutzbringenden Leuchtturm aus bereits zweimal beobachten konnten. Werden wir ihn aufhalten können, wenn wir die Zeit wieder verändern? Oder schaffen wir es alle zu retten, die Schafe ebenso wie die Wölfe? Wird das überhaupt unsere Aufgabe sein?
„Let's say sunshine for everyone
But as far as I can remember
We've been migratory animals
Living under changing weather“
So heißt es im abschließenden Song, der den fallenden Schnee im Sonnenuntergang begleitet. Wir werden nicht die Macht haben, wirklich eine große Veränderung herbei zu führen, vielleicht stehen wir zuletzt wieder am Anfang. Müssen uns opfern, müssen Chloe opfern, wer weiß. Zwar können wir dank unserer Fähigkeit eventuell Hürden ausweichen, doch welche Folgen das mit sich führt, können wir genauso wenig beeinflussen, wie ein Schmetterling einen Tornado verursacht, oder?