Tony Stark soll Iron Man sein? Was für eine analoge Unverschämtheit. In meinen Augment-Augen existiert nur ein wahrer Eisenmann – und der heißt Tetsuo.
Nicht Tetsuo Shima aus Akira wohlgemerkt, sondern Tetsuo: The Iron Man, wie Shinya Tsukamotos monströser Metall-Liebesbrief von 1989 international heißt. Seit dem 1. Juli dieses Jahres stehen schon 35 Zündkerzen auf der Geburtstagstorte dieses hektischen Cyberpunk-Fiebertraums, der für mich der Inbegriff des japanischen Independent-Kinos ist. Von Rost auf dem Meisterwerk keine Spur.
35 Jahre Tetsuo: The Iron Man – Romantischer Cyberpunk-Horror aus Japan
Kennt ihr die Szene vom Anfang der 2. Fleabag-Staffel, in der die Protagonistin sich mit blutüberströmtem Gesicht Richtung Kamera dreht und dem vermeintlichen Massaker zum Trotz "This is a love story" deklariert? So in etwa könnte man auch Tetsuo einläuten, ehe ein von Regisseur Tsukamoto höchstpersönlich gespielter Metall-Fetischist sein aufgeschnittenes Bein lust- und schmerzvoll mit einer Eisenstange penetriert.
Mit entzündeter Wunde begibt sich der frischgebackene Schrottplatz-Cyberpunk in den Straßenverkehr, wo er von einem Auto angefahren wird. In Szene gesetzt wird dieser Zusammenstoß von Stahlkarosserie und Metallmann regelrecht romantisch. Mit schnulziger Musik und einer Kamera, die mit dem Fahrzeug Liebe zu machen scheint.
Gefahren wird der Wagen von einem namenlosen Geschäftsmann (Tomoro Taguchi), der womöglich Tetsuo heißt. Muss er aber nicht. Der Filmtitel ist tatsächlich ein Wortspiel, da sich der japanische Männervorname buchstäblich aus den Schriftzeichen für Eisen (鉄) und Mann (男) zusammensetzt.
Nach der Kollision fängt der Körper des flüchtigen Fahrers an sich zu verändern. Draht sprießt wie Bartstoppeln aus seinem Gesicht, Auspuffrohre bilden sich an seinen Füßen, sein Penis mutiert zu einem tödlichen Elektrobohrer, der seine Freundin (Kei Fujiwara) fürchterlich zerfleischt. Gleichzeitig findet der angefahrene Metall-Fetischist immer mehr Gefallen an dem werdenden Eisenmann und sucht ihn in verschiedenen Gestalten heim. Liebe ist nicht tot, sie hat nur eine neue Form angenommen.
Eisenmann und Metall-Fetischist: Symphonie einer Symbiose
Tetsuo kann als kafkaeske Metall-Metamorphose mit zahlreichen Interpretationsoptionen bezeichnet werden. Ist der Film ein japanischer Kommentar auf die menschliche Beziehung zur Technik? Eine Kritik an der Kommodifizierung von Körpern? Oder doch eine queere Erwachungsmetapher, in der ein Mann zum Monster werden muss, um in seine Identität hineinzuwachsen? Da der Fetischist eine Verschmelzung beider Männer im gemeinsamen Rost-Paradies anstrebt und auch noch ein gigantischer, symbolträchtiger Metall-Phallus an prominenter Stelle ins Spiel kommt, nicht die am weitesten hergeholte Lesung.
Metall hallt jedenfalls blechern als Motiv durch den ganzen Film. Vom mechanischen Stop-Motion-Gewusel von Drähten, Kabeln und Aluminium bis hin zum Schwarz-Weiß-Look des Films, an dessen scharfem Kontrast man sich schneiden könnte. Und nicht zu vergessen der treibende Soundtrack von Chu Ishikawa, dessen perkussive Industrieklänge erbarmungslosen Takt angeben, als wären sie in der Fabrik gestanzt worden. Es dröhnt und pocht und klappert und schellt. Kunstvoll, laut und geltungsbedürftig wie ein 90er-Jahre Musikvideo.
Who's your Cyber-Daddy?
Für Regisseur Tsukamoto war Tetsuo nach seiner eigenen Kurzfilmvorlage der erste Langzeitspielfilm. Doch das war noch nicht das Ende der Cyber-Saga: Sein glänzendes Sequel Tetsuo 2: Body Hammer stellt aber weniger eine Fortsetzung dar, sondern vielmehr ein farbiges Reimagening. Mit dem selben Hauptdarsteller, aber einer konventionelleren Handlung und einem größeren Budget. Ebenfalls sehr sehenswert. Wie erfolgreich sein erst 2009 nachgelieferter Film Tetsuo: The Bullet Man war, wird hingegen kontroverser diskutiert.
Nichts kommt jedoch an die unbändige Energie des Originalfilms heran, die viel vom Autorenfilm-Enthusiasmus eines Eraserhead besitzt. Als Elternfilme nannte Tsukamoto die Cyberpunk-Klassiker Videodrome und Blade Runner. Kein Wunder: Beide Filme hatten einen großen Einfluss auf die japanische Science-Fiction der 80er Jahre, nicht nur im Anime-Bereich.
Viele Jahre später fühlt sich vor allem der queere, trans-kodierte Body-Horror von Titane verwandt mit Tetsuo an. Auch hier werden Rollen hinterfragt und Körperkonventionen gebrochen. Ganz im Sinne von Philosophin Donna Haraway, die 1985 in ihrem Cyborg Manifesto schrieb: "Cyborgs sind Geschöpfe einer Post-Gender-Welt." Umso passender, dass Tetsuo uns stets an die Entstehung einer metallenen "New World" erinnert. Ein bisschen unheimlich und Neuland-ig wirkt die, volles Rohr pervers, aber ganz offenbar glänzend und geil. Sign me up.
Seht hier den Tetsuo-Trailer:
Wie kann man sich Tetsuo: The Iron Man auf den Bildschirm holen?
Der physische Körper-Horror von Tetsuo entzieht sich leider komplett der digitalen Streaming-Welt. Aber es ist vielleicht ganz angebracht, dass der Film nur als Chrom-mäßig schillernde DVD von Rapid Eye Movies oder Koch Media zu haben ist. Für eine Blu-ray muss man sich an das UK-Label Third Window Films wenden, die Tetsuo und Tetsuo 2 sogar im Doppelpack anbieten.
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