Der blond gefärbte Juror lässt sich breitstimmig- und beinig von einer leuchtenden Frühstücksfernsehen-Moderatorin interviewen . Im Hintergrund steht Frühstücks-TV-Requisite: Kaffeetassen und Obstteller, gute Laune weht durch die bestimmt trockene Luft. Die Interviewpartner lachen, als würden sie sich kennen und bequatschen den Start der am Abend anstehenden Casting-Show. Der zweite Moderator rollt am Studiohorizont einen Flipchart herbei, fläzt sich lässig auf die Sofalehne neben seine Kollegin und hört zu, bis das Gespräch kurz verflacht.
Mehr noch als das seit einigen Jahren stets eineinhalb Wochen später startende Dschungelcamp steht Deutschland sucht den Superstar für die Ideale und die Philosophie, ja die Seele seines produzierenden Senders RTL. Die unterwürfige Nähe zum Zuschauer (Mein RTL) ist das Kapital des Senders. Vor ein paar Jahren klang RTLs Programmleitsatz, lediglich und schließlich immer nur das zu senden, wonach es den Zuschauer verlange, noch wie eine faule Ausrede. Mittlerweile glaube ich daran. Denn genau diese präzise Analyse des Zuschauerverlangens ist es ja, womit RTL trotz vergleichsweise weniger US-Lizenzierungen und stattdessen viel Eigen-Content den privaten Fernsehmarkt dominiert. RTL muss wissen, was der Zuschauer will, bevor bzw. ohne dass er weiß, was das ist.
Der zweite Moderator will ein Spiel mit dem Juror spielen. Er erklärt es kurz. Der Juror soll den perfekten Gewinner seiner Show beschreiben. Auf dem Flipchart kleben die ihm dabei zur Verfügung stehenden Begriffe. Es sind Optik, Persönlichkeit, Stimme und Performance. Die Reihenfolge ist willkürlich. Der Juror soll den für den Sängererfolg zuträglichen Attributen ihre entsprechende Wichtigkeit zuweisen. 100 % darf er hierfür verteilen.
Kein rotschwarzes Stern-TV-Moderationskärtchen passt zwischen RTL und seine Zuschauer. Diese Nähe ist auch unbedingt nötig, denn würde RTL nicht genau das produzieren und senden, was jeder Zuschauer irgendwie insgeheim, also im Verborgenen, sehen möchte, würde der Sender seine Ideologie einbüßen: Die absolute Hingabe an die archaischen Gelüste des Zuschauers und die daran anschließende Ausrichtung des höchst diversen Programms. Man (ich, manchmal) schaut RTL, weil, gottverdammt, es Spaß macht. Das Schauen im wahren Widerstreit mit sich selbst, so wie Pizza essen und sich gleichzeitig über die Plauze ärgern. Denn RTL-Inhalte zu schauen, ob man das einsehen mag oder nicht, ist für jeden Zuschauer ein ethischer Kompromiss, der sich am anschaulichsten am seit 13 Jahren tobenden Rezeptionsstreit um das Dschungelcamp ablesen lässt. Bei DSDS gibt es diesen Streit nicht. Dabei sind die Show und ihre Produktionsdynamik fernsehgeschichtlich fast noch ein wenig interessanter, da häufigeren und einschneidenderen Änderungen unterworfen.
Der Juror tut sich schwer. Das sei ja schwer zu verallgemeinern. Manche Mädchen zum Beispiel, die seien ja so hübsch, da spiele die Stimme nicht mehr die größte Rolle. Gelächter. Dies sei in anderen Fällen aber wieder umgekehrt. Trotzdem, er vergibt die ersten 50 Prozent an die Optik.
Eigentlich dürfte es DSDS gar nicht mehr geben, so wie es viele der um die Jahrtausendwende aus dem Boden sprießenden Casting-Shows mittlerweile nicht mehr gibt. Bei DSDS gehen die Zahlen Jahr für Jahr nur leicht zurück, wenn überhaupt. Die Show ist nach wie vor erfolgreich und stabil im Zielgruppensegment der 14- bis 49-Jährigen. Dem erfolgreichen Selbsterhaltungsunterfangen von DSDS liegt ein kämpferisches Strecken zum unbedingten Mithalten mit der Jugend zugrunde. Man flirtet mittlerweile auch mit den nicht mehr ganz so jungen, die aber, anders als noch früher, nun trendanfälliger, weniger berechenbar sind. RTL und DSDS erkennen diesen Wandel an, anders als die öffentlich-rechtliche Konkurrenz.
Das ganze kontrolliert-aggressive Sendergebaren lässt sich Jahr für Jahr an dieser einen Show beobachten. Ihre Struktur ist in den 15 Jahren des Bestehens einem ständigen Wandel unterworfen und der Zuschauer ist der einzige Parameter, die einzige Orientierung, die zählt. Er ist nicht ausschließlich als Quotenmesswert gedacht, sondern als Nutzbarmachung empirischer Erkenntnisse. Der Zuschauer ist Messwert, Ressource und Gestalter zugleich.
So lässt sich an DSDS Deutschlandgeschichte ablesen, zumindest die der letzten 15 Jahre und zumindest popkulturell. DSDS bedient seit ein paar Jahren zunehmend die in Deutschlands gesellschaftlicher Mitte wieder aufwallende Schlagerliebe und damit die Helenefischerisierung des Landes, die Jugend und Eltern gleichermaßen betrifft. Schlagersängerinnen gewannen die Shows und sitzen mittlerweile in der Jury. Heino, der kurzzeitig beim RTL-Publikum enorm populär war, bekam einen Platz. Seit dieser Staffel ist auch die bekannte Youtuberin Shirin David dabei, wegen dieser ganzen Digitalisierungssache und natürlich, weil die Jugend im Internet unterwegs ist und kaum noch im Fernsehen, was Davids Präsenz zur DSDS-Sendezeit ändern soll. Vor dem Schlager setzte DSDS auf den eigens kultivierten Reality-Soap-Trend und ließ das Publikum ihm sympathische Nichtsänger wie Pietro Lombardi und Joey Heindle gewinnen. Das Publikum hat gewählt, und es ging ihm immer weniger um Gesang, so wie es in der Populärkultur ohnehin immer weniger um gehörten, mehr um gesehenen Gesang geht, den Effekt und das Event, das größte, größte, größte Größte aller Zeiten!, wie es im Intro der aktuellen Staffel gleich zweimal heißt. Was damit gemeint ist, ist egal.
DSDS ist effiziente Fernsehevolution. Als niemand mehr Casting-Shows sehen mochte, wurde DSDS zur Reality-Soap; als die niemand mehr sehen mochte, zur Event-Show und zur Schlager-Show. Nur einer ist immer gleich und, freilich, er selbst geblieben: Dieter 'Der Dieter' Bohlen, der T-Shirts mit mehr Aufstickungen trägt als erlaubt und sich in der ersten DSDS-Folge einmal, bevor er einen seiner krummen Sprüche abfeuert, auffällig am Ohr rumnestelt, wie jemand, der auf einen Spruch wartet, der ihm eingeflüstert wird. Die Entwicklung der Show um den lederbraunen Fels in ihrer Mitte hat was Wildes und gleichzeitig so ökonomisch Kontrolliertes.
Aufregung im Studio, man ist gespannt, an welches Attribut wohl die knappen verbliebenen Prozentbrocken verteilt werden. Das ist schnell entschieden. 50 Prozent vergibt der Juror, er heißt H.P. Baxxter, an die Persönlichkeit. Betretene Stille. Wir wollen schon noch am Ende auf 100 Prozent kommen, sagt der tapfere Moderator, ohne den Juror blöd aussehen zu lassen. Aber die Idee wird trotzdem verworfen. Der Juror macht weiter. Die Stimme sei natürlich auch enorm wichtig, sagt er, und gibt ihr, nach kurzem Hadern, 30 Prozent.
Vor 15 Jahren, als das mit den Casting-Shows im Fernsehen noch ganz neu war, traten bei DSDS Sänger gegeneinander an. Die beste gewann damals schon nicht, sondern ein junger Mann, der sich zwischenzeitlich mit bronzener Brust durch Urwaldhallen schwang. DSDS ist, wenn man ihr nicht gerade zuschaut, die spannendste Show im deutschen Fernsehen. Sie ist so interessant und dynamisch und unvorhersehbar wie ihr Publikum. Nächstes Jahr ist DSDS vielleicht wieder ein Gesangswettbewerb. Das Publikum entscheidet.