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Düsterer Moralappell, bunt charakterisiert in "Der Glöckner von Notre Dame"

29.08.2015 - 09:00 Uhr
Bild zu Düsterer Moralappell, bunt charakterisiert in "Der Glöckner von Notre Dame"
Disney
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Paris im 19. Jahrhundert. Die Stadt wird vom Glauben und der Frömmigkeit regiert, sowie von der Buntheit des Lebens, dass sich in dieser pulsierenden Stadt zu jener Zeit abspielt. Die Zwielichtigkeit ebendiesen Glaubens wird am besten symbolisiert durch das lichtdurchflutete und von Schatten durchtränkte Innere der Kathedrale von Notre Dame, welche das Zentrum der Stadt darstellt und um welche sich eine dunkle Legende rankt, die den Leuten Gänsehaut bereitet und welche nur von ihrer Abscheu vor den bettelnden und stehlenden Zigeunern übertroffen zu werden scheint. Im Glockenturm soll ein buckeliges Monster hausen, welches die Glocken tagaus, tagein läutet. Wir befinden uns in der Geschichte des Glöckners von Notre Dame…

Kein anderer Disneyfilm der 90er lädt uns ein, einer so düsteren Erzählung zu folgen, die so viele Symboliken beinhaltet und, verglichen mit den meisten anderen Disneyfilmen dieser Zeit, so erwachsen daher kommt wie Der Glöckner von Notre Dame. Gleich am Anfang werden wir angestarrt von den Augen der Statuen und Wasserspeier der Kirche, die drohend auf uns herabblicken, unsere Sünden erkennen und uns vor uns selbst ermahnen, jedoch am Ende nur Stein sind. Wir werden mit der Frage nach dem Wert des Menschen konfrontiert, nach der Güte des Einzelnen, nach der Menschlichkeit in jedem von uns und dem richtigen und falschen Handeln. Sind Gut und Böse zwar klar getrennt, gibt es dennoch Unterordnungen im Verständnis, so wird hier sehr nüchtern vermittelt, dass das Handeln für die vermeintlich gute Sache auch von Boshaftigkeit und Wahnsinn geprägt sein kann, sowie dass Vorurteile etwas nur allzu Menschliches sind, es sich jedoch letztendlich lohnt, diese abzubauen.


"Die Glocken Notre Dames"


Der Film steckt voller Schatten und Geheimnisse und schafft es faszinierenderweise nie vollständig den düsteren Grundton ganz aufzuheben, dabei gibt es recht gute Gags und auch so manche farbenfrohe Szene, schließlich wird hier auch der Karneval thematisiert, eine klare Abhebung des von Alltag und dem Schein der Rechtschaffenheit geprägten Leben der Bewohner. Ein bunter Tag, der Spaß bedeutet. Und immerhin ist es ja immer noch Disney.

Ich war in der vierten Klasse, als meine Eltern mich mit ins Kino nahmen, um den Film zu sehen. Als 10-Jährige hat man noch nicht das Verständnis für irgendeine zweite Ebene oder bestimmte Anspielungen oder Details. Man wird erschlagen von den Bildern, mit denen man konfrontiert wird, und diesbezüglich gibt der Film ja wirklich alles her mit den Blicken vom Rand Notre Dames, dem „Hof der Wunder“ in den Katakomben und dem riesigen Fest mit seinen unzähligen kostümierten Narren. Und auch nicht zuletzt wegen der großartigen Musikstücke (immerhin als beste Filmmusik für den Oscar nominiert), die mich bis heute immer noch irgendwie mitreißen und welche ich wegen ihrer teils puren Brachialität und den Chören immer irgendwie aufregender fand als z.B die aus „Der König der Löwen“, der ja zwei Jahre vorher herauskam (mein erster Disneyfilm überhaupt) oder den kleinen, feinen Weisen aus „Pocahontas" über die Findung des richtigen Weges.


"Gott, deine Kinder..."

Was mich aber heute noch mitnimmt und weswegen dieser Zeichentrickfilm wahrscheinlich der ist, dem ich bei Weitem am meisten Aufmerksamkeit geschenkt habe, ist auch die Charakterentwicklung. Dieser Film lebt von der Darstellung des „Anders seins“:
Alle Hauptcharaktere im Film tragen eine Maske. Diese Masken wurden ihnen auferlegt oder sie taten es selbst, aber am Ende fallen diese Masken, quasi zum Klang der Glocken, und man hat die Personen vor sich, die sie eigentlich die gesamte Zeit über schon waren.
So ist von vorne herein klar, dass Quasimodo kein buckeliges Monster ist, sondern ein zutiefst sensitiver Mensch, von Isolation geprägt, der nichts anderes als Akzeptanz verlangt, was in einer Welt, in der die Norm herrscht und in der diejenigen Menschen, welche irgendwie nicht in diese Norm passen, als Ausgestoßene leben, ein schwieriges Unterfangen ist. Aber erst am Ende wird er akzeptiert, nachdem er gezeigt hat, er hätte auch eben dieses Ungeheuer sein können, wie man in der finalen Szene um die Schlacht um die Kirche sieht, in der er wild Dinge vom Kirchturm wirft oder die Gelegenheit hat, seinen Unterdrücker einfach sterben zu lassen.

Demgegenüber steht dieser Unterdrücker, sein "Ziehvater", Frollo, der als Friedensrichter und hochgläubiger Mensch, vollkommen von seiner Frömmigkeit auf Recht und Unrecht schließend an den Regeln, die ihm auferlegt wurden, festhält, gleichzeitig aber auch ein kontrollierender und sadistischer Mensch ist, welcher immer mehr seinem eigenen Wahnsinn verfällt, bis hin zum Äußersten, nämlich der Inkaufnahme des Höllenfeuers für ihn und allen Personen um sich herum, falls sich sein Wille nicht erfüllen würde, dass zu kriegen, nachdem es ihm trachtet. Die Liebe, die das Christentum doch predigt, ist in diesem Mann nie wirklich vorhanden, aber anfangs befolgt er noch die Grundsätze dessen, schließlich hat er Angst um sein Seelenheil, als er Quasimodo aufnimmt, doch im Endeffekt verfängt er sich in seiner Wut, seiner Lust und seinem vorangetriebenen Irrsinn.

Ein anderes Kapitel sind hier Esmeralda und Phoebus. Ist Phoebus eigentlich ein Saubermann, schon vom Auftreten her, Soldatenhauptmann, der den Wandel des Befehle befolgenden, aufrecht stehenden Diener Frollos zum aufrichtigen und nach moralischen Grundsätzen handelnden Deserteurs macht, also eine ziemlich stereotype Charakterisierung eigentlich, aber dennoch stilgebend für diesen Film, so ist es schwierig, in Esmeralda etwas wirklich Schlechtes zu sehen, da auch sie von anderen stigmatisiert wird und somit hier auch Vorurteile zum Vorschein kommen. Ganz reale Vorurteile, welche bis heute schlussendlich Bestand haben, drohen die älteren Generationen doch immer noch in manchen Gegenden mit den Zigeunern, wenn ihre Enkelkinder sich nicht zu weit von einem Ort entfernen sollen, da sie sonst in einen Sack gesteckt und gefressen werden könnten. Im Film wird damit natürlich niemandem gedroht, jedoch steht der Begriff "Zigeuner" hier gleich mit "Dieb" und nur am Tag des "Festes der Narren" werden diese akzeptiert, da hier wiederum die Stereotype der feiernden, bunt gekleideten und als Gaukler umherziehenden Fremden zum Tragen kommen. Auch Esmeralda wird ja quasi in ganz ganz typische Klischees gepresst, trägt sie die Kleidung, die typisch für das Bild der "verführerischen, verruchten Zigeunerin" am Anfang des letzten Jahrhunderts noch an den Wohnzimmerwänden vieler Städter hing. Sie ist Tänzerin, bettelt, hat diese unglaublich grünen Augen und eine wallende schwarze Mähne, und der Konflikt mit Frollo entstand ja auch nicht aus dem Hass auf die Zigeuner heraus, da er diese all die Jahre zuvor ja auch hat gewähren lassen. Er wollte ja die Frau haben.
Esmeralda an sich hat jedoch nichts von dem, was ihr durch das Klischee zugesprochen wird. Weder ist sie verrucht oder böse, noch eine Diebin oder gar die Hexe, zu der er sie am Ende macht. So wenig wie ihr Volk ein Volk von Dieben ist, übrigens.


"Noch kannst du mich wählen, sonst brennst du lichterloh"

Der Konflikt, in dem Frollo steht ist überhaupt ein ziemlich interessanter Aspekt der Geschichte. Er ist sehr stolz darauf, sich vollständig Gott verschrieben zu haben und plötzlich taucht diese Person auf, die seinen Glauben auf die Probe stellt. Damit fängt das ganze Desaster ja erst an. Er will sie unbedingt besitzen und schiebt diese Begierde allein ihr zu, da er vor sich selbst und den höheren Mächten, denen er huldigt, Rechenschaft ablegen muss, weshalb er überhaupt so aus der Bahn gerät. Darunter leiden im Endeffekt dann alle.
Etwas zwiespältig würde ich es dahingehend betrachten, dass Esmeralda zwar eine starke Frauenfigur darstellt, ihr Vorankommen jedoch fast ausschließlich davon abhängig ist, dass auch Quasimodo sowie Phoebus sich in diese Frau verliebt haben und ihr somit helfen, wobei Quasimodo noch ein anderes Motiv hat, dies zu tun, nämlich als Revanche darauf, dass sie die wahrscheinlich einzige Person war, die jemals gut zu ihm war und seine Liebe ihr gegenüber wahrscheinlich eher der Liebe eines Sohnes zur Mutter gleich kommt, da er diese niemals kennengelernt hat und angedeutet wird, dass er ja noch so jung sei, weshalb Esmeralda von ihm auch als "diesen armen Jungen" spricht.

"Der Glöckner von Notre Dame" mag keine moralischen Zeigefinger und lässt den Zuschauer selbst denken. Er mag keine Übertreibungen, so sind die komischen Sidekicks dezent eingesetzt und nerven nicht, nehmen nicht die Rolle eines Timon und eines Pumbaa aus "König der Löwen" ein, belegen sogar eine weitere Ebene, wenn man die Wasserspeier betrachtet, die im Grunde nur der Einbildung Quasimodos entspringen, der mit diesen "Steinfiguren" spricht aufgrund mangelnder menschlicher Gesprächspartner. Laverne erwähnt sogar in einer Szene, sie wären "einfach nur Stein". Das gibt diesen Figuren vielleicht ein wenig einen bitteren Beigeschmack.
Die Ziege wurde nicht vermenschlicht und ich muss als persönlichen Gedanken einflechten, dass ich sie ziemlich cool finde und als Kind gern auch so eine gehabt hätte.
Ich müsste hier noch etwas zu Clopin sagen, der als Erzähler fungiert und in mehreren Fassetten durch den Film leitet, doch er ist ein ziemlich oberflächlicher Charakter, dafür dass er so laut und präsent ist. Aber als Anführer des Zigeunervolkes und gleichzeitig Puppenspieler wie auch großartiger Entertainer auf dem Fest der Narren und scheinbar ziemlich konsequenter Mensch, welcher das Versteck seines Volkes zu schützen weiß, verdient er eine Erwähnung. Denn im Hof der Wunder zeigt letztendlich auch er eine düsterere Seite seiner Selbst.


"Das Licht des Himmels"

Da die Disney-Adaption in vielen Fällen vom Original von Victor Hugo abweicht, empfehle ich an die Nichtkenner des Buches, sich auf der Wikipedia-Seite des Disneyfilms mal die Hintergrund-Sektion durchzulesen. Es ist teilweise schon ziemlich gravierend, wie so oft, was ich jedoch nicht schlimm finde, sondern eher interessant.

Der Film ist von so vielen Seiten betrachtbar und dies hier ist auch eigentlich nur ein Anriss der Analysemöglichkeiten eines Teils des Gesamtwerks, aber die Charakterisierung der Personen ist wahrscheinlich eine der spannendsten im gesamten Disney-Universum. So gut wie alle auftretenden wichtigen Charaktere werden in sich selbst gespiegelt wiedergegeben. Die Nachricht, die verbreitet werden soll ist klar: Es ist wichtig, einen Blick hinter das Äußere Bild einer Person zu werfen. Hinter dem, was wir sehen, verbirgt sich vielleicht der wirkliche, echte Mensch. Und diese Moral ist eine universell gültige, über die es immer wieder nachzudenken wert ist, ob religiös, agnostisch oder einfach nur anwesend.

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Dieser Community-Blog ist im Rahmen der Aktion Lieblingsfilm 2015 entstanden. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Medienpartnern und Sponsoren für diese Preise:


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