David Lynch gilt als Meister des surrealen Filmes. Mit Werken wie Eraserhead (1977), Blue Velvet (1986), Twin Peaks (1990–1991), Lost Highway (1997) und Mulholland Drive (2001) schuf der US-amerikanische Künstler teils albtraumhafte, verstörende Werke, die nicht jedem schmecken, sich aber einer großen Fangemeinde erfreuen. So charakteristisch und stilprägend sind die Filme Lynchs, dass es fast schon verwundert, wie gradlinig seine zweite Regiearbeit nach seinem Erstlingswerk Eraserhead war. Denn mit dem auf wahren Begebenheiten beruhenden Der Elefantenmensch schuf Lynch im Jahr 1980 zumindest erzählerisch ein klassisches Filmdrama, das sich eher auf die eigentliche Handlung konzentriert und weniger Spielraum für Eigeninterpretation lässt. Das ist aber auch gut so, denn was Lynch hier über knapp zwei Stunden hinweg erzählt, gehört wohl zum ergreifendsten, das man mithilfe einer Kamera, hervorragender Ausstattung und grandiosen Schauspielern auf Zelluloid bannen kann.
Der Elefantenmensch handelt vom John Merrick (John Hurt), der seit seiner Kindheit schrecklich entstellt ist. Von seinem "Besitzer" wird er misshandelt und auf Jahrmärkten einem breiten Publikum zur Schau gestellt, bis ihn der gutmütige Arzt Dr. Frederick Treves (Anthony Hopkins) zu sich ins Krankenhaus holt, um ihn zu untersuchen. Tatsächlich entdeckt er aber schnell, dass hinter der monströsen Fassade ein sensibler, freundlicher und eloquenter Mann steckt, und er versucht, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Leider ist Merrick auch im deutlich freundlicheren Umfeld des Krankenhauses nicht vor dem Hass einiger Mitmenschen geschützt und das Drama nimmt seinen Lauf.
Warum ich Der Elefantenmensch mein Herz schenke
Als ich Der Elefantenmensch zum ersten Mal sah, war ich, wie vermutlich jeder Zuschauer, zunächst einigermaßen abgestoßen von der Erscheinung des armen John Merrick. Als Zuschauer schlüpfte ich in die Rolle des voyeuristischen Jahrmarktbesuchers, der die Attraktion Elefantenmensch zu Gesicht bekommt. Mit fortlaufender Spieldauer offenbarte sich dann aber immer mehr das eigentliche Wesen hinter der Fassade, ich lernte den Mann John Merrick kennen und mögen - den Mann, der mit größter Hingabe einen Dom als Miniatur nachbaut, der die Bibel zitiert, der kulturinteressiert ist und ins Theater geht. Ich bewundere die Art und Weise, in der Lynch mich emotional durch die Handlung führt, ohne dabei die Moralkeule zu schwingen. Für mich gibt es nicht viele Filme, die eine solche Gratwanderung so eindrucksvoll hinbekommen.
Warum auch andere Der Elefantenmensch
lieben werden
Egal welcher Herkunft, welches Alters oder welches Standes - der Elefantenmensch ist ein Film, bei dem es schwer fällt, nicht die eine oder andere Träne zu verdrücken und die eigenen Moral- und Wertevorstellungen, die wir im alltäglichen Leben anwenden, zu hinterfragen. Daher kann ich in diesem Absatz leider nicht dafür garantieren, dass auch andere Menschen den Film lieben werden. Aber dass Der Elefantenmensch in so ziemlich jedem etwas berührt, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Und auch optisch hat der Film eine Menge zu bieten: Lynch gelang es hier nämlich, auch weitestgehend ohne die surreale Ästhetik seiner anderen Werke seinen künstlerisch ansprechenden Stil ins Mainstreamkino zu transportieren und uns mit düsterer Schwarz-Weiß-Optik, einer grandiosen Ausstattung und überzeugendem Make-Up ins London des Viktorianischen Zeitalters zu versetzen.
Warum Der Elefantenmensch die Jahrzehnte überdauern wird
Der Elefantenmensch wird die Jahrzehnte überdauern, weil er eines der wichtigsten Probleme menschlichen Zusammenlebens überhaupt behandelt. Tagtäglich werden Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft von ihren Mitmenschen verurteilt, in Schubladen gesteckt, gehänselt, psychischer und oft genug auch körperlicher Gewalt ausgesetzt. Unsere Geschichte ist durchzogen von schrecklichen Ereignissen aufgrund von Vorurteilen und Intoleranz und auch in unserer heutigen aufgeklärteren Gesellschaft haben wir es noch immer nicht in Gänze geschafft, Toleranz gegenüber Andersartigkeit zu üben und über Äußerlichkeiten hinwegzusehen. Der Elefantenmensch trifft den Kern dieses Stigmas und führt uns sowohl die tiefsten Abgründe als auch die schönsten Aspekte menschlichen Miteinanders vor Augen - ein Wechselbad der Gefühle, das thematisch auch in vielen Jahren nicht an Aktualität eingebüßt haben wird.
I am not an animal! I am a human being!