Ich, Gothic & mein Urlaub in der Strafkolonie

02.08.2016 - 10:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
"Ich habs immer noch drauf!" (Auf der Festplatte)
Piranha Bytes
"Ich habs immer noch drauf!" (Auf der Festplatte)
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Freiheitsentzug ist eine Wohltat. Zumindest in der Welt von Gothic, die mich auch noch nach fünfzehn Jahren derart gefangen nimmt, dass ich gar nicht daran denke, mir einen Weg aus der magischen Barriere zu bahnen.

Wenn andere Leute Urlaub machen, lassen sie auf den Balearen so richtig die Sau raus oder bereisen exotische Länder — Panama zum Beispiel soll zu dieser Jahreszeit ja ganz wunderbar sein. Ich hingegen habe mit meiner knappen Freizeit anscheinend nichts Besseres zu tun, als mich erneut von einem 15 Jahre alten Spiel gefangen nehmen zu lassen. Dieses heißt Gothic und Ausbruchspläne sind zwecklos.

Wer nach abgesessener Zeit erneut straffällig wird und wieder im Kittchen landet, dem sagt man bisweilen nach, dass er mit den unbeschränkten Möglichkeiten der freien Welt überfordert sei. Das scheint auch auf mich als Spieler zuzutreffen. Während heutige Spiele häufig einem bis zum Bersten mit Attraktionen gefüllten Jahrmarkt gleichen, verfrachtet Gothic mich in eine mittelalterliche Strafkolonie, die beschränkender nicht sein könnte. Das Spiel begnügt sich nicht damit, mir an jeder Ecke gefährliche Kreaturen auf den Hals zu hetzen, die mir nach dem Leben trachten, auch mit den Mitinsassen ist meist alles andere als gut Scavenger-Fleisch naschen. Das wird mir bereits in der Introsequenz eingebläut, in der mein namenloser Held aus unerfindlichen Gründen in eine magische Barriere geworfen wird, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt. Dort angekommen, werde ich von einem Trupp ruppiger Gardisten begrüßt, die mir erst mal volles Pfund aufs Maul hauen.

Zwar ist die Spielwelt von Gothic deutlich kompakter als etwa bei Titeln aus dem Hause Ubisoft oder Bioware, dafür aber punktet das Minental von Khorinis mit einer unvergleichlichen Atmosphäre. Denn in Gothic mime ich keinen strahlenden Helden, sondern einen unrühmlichen Sträfling, der sich seinen Platz in der Rangordnung der Kolonie erst mühsam erkämpfen muss. Trotz der obligatorischen Orks, Dämonen und Goblins bekomme ich keine kitschig-bunte Fantasywelt geboten, sondern ein raues Szenario, das atmosphärisch an Die Klapperschlange erinnert. Kein Wunder also, dass die Knastis mit ihrer Ruhrpottmentalität selbst einen Kalle Grabowski problemlos in den Schatten stellen würden.

Die Welt von Gothic fühlt sich lebendig und glaubwürdig an. Wilde Tiere halten sich immer dort auf, wo auch ihre Vorlagen aus der realen Welt ihre Habitate haben. Während die garstigen Blutfliegen Sümpfe und Gewässer lieben, findet man Molerats — eine Mischung aus Maulwurf und Ratte — hauptsächlich in finsteren Höhlen. Die straußenähnlichen Scavenger hingegen streifen am liebsten im Herdenverbund durch offene Graslandschaften. Doch auch spielmechanisch sind die Monster alles andere als zufällig platziert, bilden sie doch natürliche Progressionsgrenzen , die erst mit dem allmählichen Erstarken des Helden überwunden werden können. Statt künstlicher Levelbegrenzungen ergibt sich damit eine offene Welt, die auf eigene Gefahr zwar frei begehbar ist, dem Spieler aber implizit eine an die Story gebundene Stoßrichtung vorgibt.

Auch die Bewohner dieser virtuellen Welt verhalten sich weitgehend glaubhaft und tragen viel zum Charme von Gothic bei. Wer unerlaubter Weise ihre Wohnungen betritt, wird mit gezogener Waffe barsch dazu aufgefordert, diesen Hausfriedensbruch tunlichst umzukehren. Nach vollbrachtem Tageswerk (das zugegebenermaßen aus immer denselben Animationen besteht) versammeln sie sich am Lagerfeuer und spielen immer dieselbe Leier oder geben Spruchweisheiten zum Besten. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass Gothic über die Jahre so etwas wie eine zweite Heimat geworden ist, in die ich mich immer wieder verkriechen kann, wenn mir der Sinn nach Müßiggang steht. Die Hauptquest lasse ich dabei tunlichst links liegen. Stattdessen schaue ich lieber den ständig kiffenden Sektenspinnern dabei zu, wie sie ihr Sumpfkraut in großen Rauchwolken vor sich hin paffen oder lausche den scharfsinnigen Dialogen der NPCs (Sprecher 1: "Früher wäre das ganz anders gelaufen." Darauf Sprecher 2: "Ja früher! Früher wäre das auch ganz anders gelaufen!").

Spielerisch gefällt mir Gothic deshalb so sehr, weil es mich nicht für dumm verkaufen will. Hier gibt es keine Quest-Marker und keine Mini-Map, wer sich in der Kolonie zurecht finden will, ist auf sich selbst angewiesen. Verlass dich auf jemanden und du bist verlassen, das ist eben so.

Auch das Kampfsystem überzeugt nach wie vor mit einer taktischen Tiefe, die zwar einem Dark Souls nicht das Wasser reichen kann, aber dem Spieler dennoch einiges an Können abverlangt. Jeder Gegnertyp verfügt über eine bestimmte Angriffsfolge, die es zu erlernen gilt, um angemessen darauf reagieren zu können. Wo wir gerade beim Thema Lernen sind: Nach erfolgreichem Levelaufstieg können die schweißtreibend gesammelten Erfahrungspunkte nicht einfach zur Steigerung der Attribute eingesetzt werden, wie wir es aus zahlreichen anderen RPGs kennen. Stattdessen muss ich einen Trainer aufsuchen, der mir gegen Bezahlung beibringt, wie ich etwa meine Geschicklichkeit oder meine magischen Fähigkeiten steigere. Zudem kann ich mich in den verschiedenen Waffenkategorien unterrichten lassen, damit ich bei der nächsten Konfrontation beispielsweise nicht auf die dumme Idee verfalle, ein einhändiges Schwert plump mit beiden Händen zu führen. Das macht Laune.

Für mich bietet Gothic weiterhin eine der gelungensten Spielewelten, für die ich vermutlich auch die nächsten fünfzehn Jahre gerne den ein oder anderen Urlaubstag opfern werde, um mich in ihr zu verlieren. Das mag nostalgisch sein und vielen wie Zeitverschwendung vorkommen, aber wie sagte schon John Lennon so treffend: "Time you enjoy wasting, was not wasted."

Gothic erschien im März 2001. Ihr findet es beispielsweise bei Steam  oder Good Old Games . Um das Spiel auch auf heutigen Computern zum Laufen zu bekommen, muss häufig ein System Pack  installiert werden. Die aufgehübschte Grafik in den obigen Screenshots verdanken wir dem D3D11-Renderer . Außerdem wurden hochauflösendere Texturen  aus dem ebenso superben Gothic II verwendet.

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