Pinocchio war im Jahre 1940 der zweite abendfüllende Zeichentrickfilm der Disney-Studios nach Schneewittchen und die sieben Zwerge. Doch auch wenn sich die Kritiker begeistert zeigten, konnte Pinocchio an den Kinokassen den Erfolg seines Vorgängers nicht wiederholen. Der Film basiert frei auf dem gleichnamigen Buch von Carlo Collodi und erzählt die Geschichte der vom Spielzeugmacher Gepetto geschnitzten Marionette Pinocchio, die durch eine Fee zum Leben erweckt wird. Um jedoch ein richtiger Junge aus Fleisch und Blut zu werden, muss sich Pinocchio in der großen weiten Welt als mutig, ehrlich und selbstlos beweisen. Dies ist jedoch keine leichte Aufgabe für eine naive Marionette, wie auch Jiminy Grille immer wieder feststellen muss, der Pinocchio als offizielles Gewissen zugeteilt wird.
Warum ich Pinocchio mein Herz schenkte
Trotz der auch schon damals nicht zu übersehenden Tendenz Disneys zu Putzig- und Lieblichkeit ist Pinocchio doch voll von Szenen und Charakteren, die äußerst schockierend sind. Ein frühes Beispiel ist Marionettentheater-Besitzer Stromboli, der Pinocchio in einen Käfig sperrt und ihm unverhohlen damit droht, ihn zu Brennholz zu verarbeiten, wenn er ihm nicht mehr nützlich sein kann. Der wahre Horror findet jedoch auf Pleasure Island statt: Hier wird nicht nur Pinocchios rüpeliger Kumpel Lampwick in einer Transformationssequenz, die jedem Werwolf-Film zur Ehre gereichen würde, in einen Esel verwandelt, sondern das gleiche Schicksal erleiden auch sämtliche anderen Kinder, die sich auf der Insel vergnügen. Doch damit nicht genug: Zwar wachsen Pinocchio selbst lediglich Eselsohren und ein Schwanz, und er kann letztendlich entkommen, den anderen Kindern blüht jedoch immer noch ein Eselsleben in den Salzminen oder im Zirkus; der Zuschauer erfährt nie, ob sie gerettet werden. Mindestens ebenso zu Herzen gehend ist auch die Szene, in der Gepetto verzweifelt nach dem verschwundenen Pinocchio sucht, sowie die Sequenz, in der alle glauben, Pinocchio sei gestorben. Der größte Schock kommt jedoch am Ende, als Pinocchio endlich in einen echten Jungen verwandelt wird: Wie hätte er wohl all seine Abenteuer überstanden, wäre er schon immer ein Mensch gewesen, und nicht eine relativ widerstandsfähige Marionette? Und was verheißt diese Verwandlung für Pinocchios Zukunft?
Warum auch andere Pinocchio lieben werden
Pinocchio ist nun jedoch kein Freudenfest des Nihilismus, hat der Film doch auch jede Menge Humor parat, um die bedrückenden Szenen auszubalancieren. Zuallererst sind es die beiden tierischen Sidekicks Figaro die Katze und Cleo der Fisch, die immer für einen Ulk gut sind. Was in späteren Disney-Filmen durchaus zur Geduldsprobe werden kann, ist hier noch ganz frisch und unverbraucht. Auch die Verführer Der Ehrenwerte John und Gideon, die Pinocchio von einem Schlamassel in den nächsten locken, liefern sich untereinander die eine oder andere Slapstick-Einlage. Und schließlich ist es auch Pinocchios unglaubliche Naivität, die immer wieder für einen Lacher gut ist.
Warum Pinocchio einzigartig ist
Der große Einfallsreichtum des Films und seine Liebe zum Detail zeigen sich in vielen Sequenzen, die für die Geschichte eigentlich ohne Belang sind, aber mit soviel Hingabe gestaltet wurden, dass sie schon fast als eigene Kurzfilme gesehen werden können. So gibt es bereits am Anfang in Gepettos Werkstatt einen Abschnitt, in dem unzählige Spieluhren Szenen aus Stadt- und Landleben aufführen. Doch trotz der knalligen Farben und putzigen Protagonisten ist auch hier nicht alles eitel Sonnenschein: Es werden Tiere gejagt, Kinder verhauen und Alkoholiker torklen herum. Ähnliche Sequenzen finden sich über den ganzen Film verteilt, so die Aufführung in Strombolis Marionettentheater mit den freizügigen Tänzerinnen oder Pinocchios Unterwasser-Suche nach Gepetto, bei der er die Bekanntschaft der verschiedensten Bewohner des Ozeans macht.
Warum Pinocchio die Jahrzehnte überdauerte
Abgesehen vom Inhalt ist Pinocchio auch optisch immer wieder beeindruckend, haben doch die Zeichner aus dem Vollen geschöpft: So gut wie jedes Detail der Figuren ist ständig animiert, hier bewegen sich nicht nur Münder, Köpfe oder Arme. Nein, die Charaktere nutzen stets ihren gesamten Körper, um sich auszudrücken; und dies zu Zeiten, als wirklich jeder Strich per Hand gezeichnet werden musste. Auch die Hintergründe sind keine statischen Gemälde, sondern mit vom Wind gewiegten Blättern oder tosenden Wellen ein steter Augenschmaus. Im Gegensatz zum Vorgänger Schneewittchen erlaubte es eine speziell entwickelte Kamera darüber hinaus, in die Szenen quasi hinein- und wieder aus ihnen heraus zu fahren, was dem Film trotz seiner flachen Zeichnungen eine deutliche Dreidimensionalität verleiht.
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