David Lynchs Mulholland Drive ist ein Film, in dem man sich wirklich verlieren kann. Bereits die ersten Aufnahmen entführen in ein nächtliches Los Angeles, das zwischen Traum und Realität schwankt. Unmöglich ist es, die verschiedenen Ebenen, die Lynch im Lauf der Geschichte eröffnet, sauber voneinander zu trennen. Früher oder später laufen alle Bilder ineinander und ziehen einen immer tiefer in den Schlund des Films.
Dennoch gibt es ein Bild, das heraussticht und sich wie kein zweites ins Gedächtnis brennt. Hat man den Moment einmal gesehen, kann man ihn nie wieder vergessen – und das, obwohl er nicht einmal mit dem Hauptteil der Handlung verbunden ist. Vielmehr wagt sich Lynch in eine Seitenstraße seines sonnigen, aber auch düsteren Los Angeles. Das Grauen lauert eben überall, auch hinter unscheinbaren Ecken.
Doch der Reihe nach: Von welcher Szene reden wir überhaupt?
David Lynch entführt in ein unheimliches Hollywood
Mulholland Drive erzählt von der jungen Betty (Naomi Watts), die mit einem Traum nach Los Angeles kommt. Sie will Schauspielerin zu werden. Das klingt wie eine klassische Hollywood-Geschichte in Hollywood. Im Apartment ihrer Tante trifft Betty aber eine mysteriöse Frau, die sich – nach einem Bild der Schauspielerin Rita Hayworth – Rita (Laura Harring) nennt und wenige Stunden zuvor einen Autounfall überlebt hat.
Hier könnt ihr den Trailer zu Mulholland Drive schauen:
Darüber hinaus stellt uns Lynch weitere Figuren vor, die durch dieses merkwürdige Los Angeles mäandern. Ziemlich früh im Film treffen sich etwa Dan (Patrick Fischler) und Herb (Michael Cooke) in einem Winkie's am Sounset Boulevard. Was auf den ersten Blick wie ein völlig normales Gespräch zwischen zwei Personen wirkt, verwandelt sich von Minute zu Minute in eine eindringlichere und verstörende Erfahrung.
Mulholland Drive beschwört das pure Grauen herauf
Dan berichtet nervös von einem wiederkehrenden Albtraum, in dem er auf eine angsteinfößende Gestalt trifft. Niemals will er dieser Gestalt außerhalb seines Traums begegnen, so sehr fürchtet er sich vor ihr. Trotzdem kann er ihre Präsenz im Hinterhof des Diners spüren, was die Frage aufwirft, ob wir uns gerade in der Wirklichkeit oder einer der vielen surrealen Traumwelten des Films bewegen.
Diesige Kamerabewegungen untermauern die Ungewissheit des Augenblicks, während Lynch geschickt mit der Umgebung spielt: Die Sonne scheint und die Menschen gehen ein und aus im Winkie's. Nichts deutet darauf hin, dass wir uns hier an einem unwirklichen Ort befinden, der die Realität verzerrt, und dennoch legt sich ein bedrohlicher Schatten über die Sequenz, der von einem großen, unvermeidlichen Unheil kündet.
Besonders faszinierend ist, wie Lynch bereits im Dialog der beiden Figuren alles schildert und verrät, was danach eintreten könnte. Damit nimmt er gewissermaßen auch den späteren Besuch im Club Silencio vorweg, in dem sämtliche Darbietungen vorher aufgezeichnet wurden und nur von einer Schein-Performance begleitet werden, die mitunter verblüffend echt ausfällt, im Bruch dafür umso mehr schockiert.
Das Grauen in Mulholland Drive lässt sich nicht fassen
Am schockierendsten ist jedoch der Moment, wenn sich Dan und Herb in den Hinterhof des Diners wagen. Als Zuschauende wissen wir theoretisch genau, was passieren wird, immerhin hat es Dan gerade in aller Ausführlichkeit erklärt. Zudem befinden wir uns in einer Szene am helllichten Tag – alles wirkt durchschaubar. Je näher wir aber der Mauer hinter dem Diner kommen, desto unerträglicher wird die Anspannung.
Dann entfesselt Lynch mit aller Wucht, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde ein Grauen, das sich seit Beginn des Films durch die unheimliche, rätselhafte Atmosphäre ankündigt. Lange Zeit wissen wir nicht, womit wir es in Mulholland Drive genau zu tun haben. Die plötzliche Erscheinung der albtraumhaften Gestalt ist eines der wenigen konkret benennbaren Ereignisse. Trotzdem lässt sie sich kaum fassen.
Die Gestalt schiebt sich ins Bild und bringt den gesamten Film ins Wanken. Bis wir überhaupt realisieren, was gerade geschehen ist, ist sie schon wieder verschwunden. Zurück bleibt ein mulmiges Gefühl, als hätte Lynch die Tür in eine andere Dimension einen Spaltbreit geöffnet und eine fremde Kreatur in die Stadt der Engel gelassen. Dort lauert sie nun und steht für alles, was man sich nicht auszusprechen wagt.
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Völlig unabhängig davon, was hinter der Erscheinung wirklich steckt und ob wir uns in einem Traum befinden oder nicht: Fortan beschleicht einen in Mulholland Drive dauernd das Gefühl, dass da etwas Unheimliches schlummert und einen jeden Augenblick überrumpeln kann. Diese Unsicherheit begleitet einen über den ganzen Film hinweg – und hallt auch danach noch als schauriges Echo nach.
Diesen Text haben wir erstmals im Juni 2020 veröffentlicht. In Erinnerung an David Lynch haben wir ihn nochmal hervorgeholt. Mulholland Drive streamt aktuell bei Mubi und MagentaTV im Abo.