Der bedeutende japanische Filmemacher Yasujirô Ozu, später hauptsächlich für seine Familiendramen bekannt, drehte zunächst - stark geprägt durch das amerikanische aber auch das deutsche Kino - eine große Anzahl an Unterhaltungsfilmen. Auch wenn von seinen frühen Filmen nur noch wenige erhalten sind, so läßt sich trotzdem eine Entwicklung, aber auch Kontinuität, in Ozus Werk entdecken. Der erste Teil dieser kleinen Reihe beschäftigte sich mit seinen Gangsterfilmen. Hier sollen nun seine Studentenkomödien im Zentrum stehen.
Ozu entwickelte durchaus ein gutes Gespür für das Leben von Studenten: Die Angst vor einem Prüfungsversagen, die notwendige Disziplin beim Lernen, aber auch das Spielen von Streichen und die manchmal unüberwindbare (und wohl den meisten sehr gut bekannte) Prokrastination zeugen von Ozus größter Stärke, seiner Empathie. Er konnte sich vorzüglich in die Gefühlswelt anderer hineinversetzen. Denn auch wenn er niemals selbst eine Universität besuchte, das Verständnis von Erfolgsdruck, Ängsten und Ablenkungen konnte Ozu nur allzu gut nachvollziehen. Allerdings beschränkte sich Ozu nicht ausschließlich mit dem universitären Aspekt des Studententums. Seine Studenten waren nicht immer zwingend an einer Fakultät. Manchmal waren sie auch bereits Absolventen. Ihm lag mehr daran, Charaktere in ihrer nicht abgeschlossenen persönlichen Entwicklung aufzuzeigen.
Die Studentenkomödien
Sein frühester noch erhaltener Film Days of Youth (Wakaki
hi, 1929) ist unübersehbar von Slapstick- und Vaudeville-Komödien beeinflusst. Der Film erzählt die Geschichte zweier Studenten, Watanabe (Ichirô Yuki) und Yamamoto (Tatsuo Saitô), die beide um die Gunst der jungen Chieko (Junko Matsui) ringen. Die Handlung ist sicherlich nicht sonderlich einfallsreich, aber Ozus Erzählweise zeugt hier schon früh, wenn auch noch etwas unausgereift, von seiner poetischen, aber präzisen Bildsprache. Die Charaktere folgen dabei stets formellen Eigenschaften: Watanabe zeichnet sich durch sein Selbstbewusstsein aus, während Yamamoto ein sehr schüchterner, aber fleißiger Mensch ist. Während zunächst der Studentenalltag hervorragend als Hintergrund dient, so ist die zweite Hälfte des Filmes rund um einen Skiausflug vielleicht etwas zu stark von der Slapstick der Hollywoodgrößen Harold Lloyd und Charlie Chaplin geprägt. Nicht immer passt jeder Gag und vieles erscheint vorhersehbar, aber Days of Youth zeigt wunderbar Ozus mitfühlenden Komödienansatz. Übrigens ist der Skifahrtsabschnitt der wahrscheinlich längste Außenaufnahmenteil in Ozus gesamter Karriere.
Noch im gleichen Jahr wie Days of Youth folgte I Graduated, But... (Daigaku wa detakeredo), insgesamt bereits Ozus zehnter Film. Leider haben von diesem Film nur noch 11 der ursprünglich gut 70 Minuten überlebt. Der Rest des Filmes ist tragischerweise unwiederbringbar verloren gegangen.
Interessanterweise stammt das Drehbuch von Ozus Freund Hiroshi Shimizu (Regisseur von Mr. Thank You oder The Masseurs and a Woman), was man dem Film auch anmerkt. Auf jeden Fall ist er ein typischer Film seiner Zeit: Kurz vor dem zweiten
Weltkrieg ist die Arbeitslosigkeit in Japan extrem hoch und besonders
Akademiker hatten es sehr schwer sofort eine Anstellung zu bekommen und mit genau dieser Problematik beschäftigt sich der Film auf etwas humoristische Weise. Nomoto (Minoru Takada) hat kürzlich die Universität abgeschlossen und findet keine passend Anstellung, was er seiner zukünftigen Frau Machiko (Kinuyo Tanaka) verschweigt. Nach dem leichteren Days of Youth drehte Ozu hiermit nun einen Film, der die Entwicklung hin zu einer
realistischeren, aber immer mitfühlenden Darstellung der Mittelklasse aufzeigte. Ozus Intentionen waren hier bereits
ziemlich offensichtlich. Auch die Darstellung der gesellschaftlichen
Verwerfungen aufgrund der allgemeinen Lage sind bereits zu finden:
Beispielsweise entschließt sich Machiko dafür, mittels eher
unehrenhafter, jedoch geldbringender Tätigkeiten, die Hoffnung auf ein
gemeinsames zukünftiges Eheleben zu erhalten, etwas, dass sich in vielen
japanischen Filmen jener Zeit wiederfindet, denn meistens sind die Männer zu
schwach, sodass die Frauen die Initiative ergreifen müssen und sich für
ihre Männer opfern. Dass in I Graduated, But... schließlich das
Problem auf eher lustige Art aufgelöst wird, mag vielleicht weniger gefallen, aber insgesamt deutet der Film durchaus an, wohin Ozus filmische Reise gehen wird.
1930 produzierte Ozu I Flunked, But... (Rakudai wa shita keredo), der wohl als Ozus Abschied von seinen reinen Studentenkomödien betrachtet werden kann. Sein insgesamt 15. Film erzählt die Geschichte von Takahashi (Tatsuo Saitô) und seinen Kommilitonen (darunter beispielsweise Chishû Ryû). Takahashi muss, weil er das Abschlußexamen nicht bestanden hat, sein letztes Jahr an der Universität wiederholen, während seine erfolgreicheren Freunde feststellen müssen, dass ihr Abschluß in einer von wirtschaftlicher Rezession gebeutelten japanischen Gesellschaft nicht automatisch eine gute Arbeitsanstellung bedeutet. Zwischen humoristischen Einlagen drängen hier erneut Elemente von Ozus typischen Themen an die Oberfläche. Sowohl I Graduated, But... als auch I Flunked, But... sind geprägt von leichtem Humor und melancholisch gestimmten Hintergrund und auch wenn die Filme nicht als perfekt bezeichnet werden können, so stellen sie doch vorsichtige Gehversuche des kommenden Regiemeisters dar. Es wird deutlich, dass sich Ozus Interesse immer stärker hin zu erwachseneren Themen verschiebt. Technisch war Yasujirô Ozu zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits schon erwachsen geworden. Als nächster Film sollte das düstere Gangstermelodram Die Frau jener Nacht folgen.
Mit seinem zwanzigsten Film, The Lady and the Beard (Shukujo
to hige), kehrte Ozu 1931 nochmals zu den Studenten zurück, um sich mit sozialen Konventionen zu beschäftigen. Hier verknüpfte Ozu verschiedene seiner Themenbereiche aus der Stummfilmzeit: Der Film
beginnt wie eine leichte Studentenkomödie, Erinnerungen an
Chaplin oder Lloyd inklusive, entwickelt sich teilweise zu einem
etwas theatralischen Melodrama mit Elementen aus Ozus Familiendramen,
besitzt Nebenfiguren aus dem Gangstermilieu und behandelt das Thema der
problematischen Suche nach Arbeit in Japan während der
Weltwirtschaftskrise (obwohl dies hier nicht direkt angesprochen wird). Die Hauptfigur Okajima (Tokihiko Okada) ist ein Kendomeister an der
Universität, der nach seinem Abschluß jedoch mit sozialen
Konventionen zu kämpfen hat. Er ist Bartträger und in traditionellen
Umhängen gekleidet, die vielleicht in seiner Kendowelt passend
erscheinen, aber in der realen Arbeitswelt auf Unverständnis stoßen oder
sogar lächerlich wirken. Die Unvereinbarkeit der akademischen Welt mit
der westlich angenäherten Arbeitsumgebung zwingen Okajima dazu sich
anzupassen - sprich sich rasieren und Anzüge tragen zu müssen. Damit fragt Ozu nicht
nur nach äußerlicher Darstellung, sondern vielmehr danach, wie die
Menschen sich selbst wahrnehmen und andere anhand ihrer Kleidung
bewerten, veranschaulicht an etwas stereotypen Charakteren, die jedoch stets sympathisch erscheinen. Der abwechslungsreiche Film hat jedoch noch mehr zu bieten, denn er stellt Okajima drei verschiedene Frauen
zur Auswahl (wobei eigentlich von Anfang an klar ist, auf wen die Wahl
fallen wird): Die zurückhaltende aber äußerst sympathische Hiroko
(Hiroko Kawasaki), die etwas eingebildete Teruo (Ichirô Tsukida) aus
gutem Hause, sowie die selbstbewußte Gangsterbraut Satoko (Satoko Date).
Dass der Handlungsverlauf dabei nicht immer überzeugt und stellenweise
sogar konstruiert erscheint, schmälert leider etwas den Gesamteindruck, die Verflechtung von Ozus unterschiedlichen Themenbereichen zu einem
Ganzen sowie die abwechslungsreiche Handlung als auch die sympathischen Figuren machen The Lady
and the Beard zu einem äußerst bemerkenswerten Werk in Ozus
Filmographie.
Nach dem bewegenden Drama Tokyo Chorus folgte Ich wurde geboren, aber.... Da aber die Dreharbeiten kurzzeitig unterbrochen werden mußten, weil eines der Kinder eine Verletzung auskurieren mußte und gleichzeitig Geld benötigt wurde um ein größeres Projekt zu finanzieren, drehte Ozu quasi nebenbei die tragische Komödie Where Now Are the Dreams of Youth? (Seishun no yume imaizuko, 1932), ein Film über Klassenunterschiede und deren Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen. Horino (Uero Egawa), ein Student aus gutem Hause, erfährt während einer Prüfung, dass sein Vater verstorben sei. Er ist gezwungen, die Uni zu verlassen und in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters zu treten, gleichbedeutend mit einem relativ unbeschwerlichen Leben. Seine früheren Kommilitonen haben in beruflicher Sicht weniger Glück und bitten Horino um Hilfe. Gleichzeitig ist Horino in die bei allen beliebte Kellnerin Oshige verliebt (Kinuyo Tanaka), die jedoch aus Bedenken um den Klassenunterschied in eine Ehe mit dem armen Saiki (Tatsuo Saitô) einwilligt. Das Drehbuch zu dem Film, geschrieben von Kôgo Noda, basiert lose auf dem Schauspiel Alt-Heidelberg von Wilhelm Meyer-Förster aus dem Jahre 1903, das 1927 bereits von Ernst Lubitsch unter dem Titel The Student Prince in Old Heidelberg verfilmt wurde. Ozu zeichnet durch Horino mit verspielter Leichtigkeit und feiner Melodramatik eine Figur, die sich durch ein Leben aus Langeweile, Rollenkonventionen und Verantwortung ohne Berufung auszeichnet.
In den folgenden Jahren widmete sich Ozu ausschließlich dramatischen Stoffen. 1936 kehrte er noch ein letztes Mal zu seinen Studenten zurück. College is a Nice Place, der allerdings leider vollständig verloren ging, war wohl jedoch alles andere als ein fröhlicher Film. Die Handlung entwickelt sich rund um einige Studenten, die sich in der gleichen Pension aufhalten.
Eine Zusammenfassung
Ozus frühe Filme, auch wenn sie oft verspielt und unausgereift waren, belegen bereits seine meisterhafte Fähigkeit, Gefühle auf die große Landwand zu transportieren. Die Studentenkomödien sind in jedem Fall charmante kleine Filmperlen, deren melancholischer Hintergrund, den Werken eine psychologische Tiefe verleiht. Obwohl die für Ozu so typische Kamerakomposition in Filmen wie Days of Youth noch komplett fehlte und der ausländische Einfluß auf den Japaner fast schon zu sehr zu spüren war, so zeigen seine Studentenkomödien genauso wie die anderen Stummfilme in der Gesamtheit das Schaffen eines Regisseurs, der seinen eigenen poetischen Stil entwickelte. Sie repräsentieren eine Übergangsphase zu seinem späteren strikten Formalismus. Die Bilder lenken eine ausgewogene Aufmerksamkeit sowohl auf die dramatische Handlung als auch auf das soziale Umfeld der agierenden Figuren. Trotz all der Bitterkeit und Melancholie, die aus den Themen resultieren könnte, verbreiten Ozus Filme ein Gefühl von Hoffnung. Eine Hoffnung, dass sich gesellschaftliche Probleme beheben oder wenigstens verändern lassen können. Selbstverständlichkeiten können in Frage gestellt werden! Ozus eigenes Älterwerden und die damit verbundene Reife ließ ihn reflektierte und gesellschaftlich relevante Filme erschaffen. Einen feinen, eigenwilligen Humor sollte er jedoch stets behalten.
Teil 1: Ozus Gangsterfilme