Im The Walking Dead-Universum ist gerade einiges los und das hat nicht nur mit Ricks qualvollem Abschied zu tun. Kaum hat der von Andrew Lincoln verkörperte Sheriff mittels eines Helikopters das bisher eroberte Gebiet der Zombie-Apokalypse verlassen, überraschte die Ankündigung von drei The Walking Dead-Filmen, ehe uns der bisher größte Zeitsprung der Serie eine 10-jährige Judith Grimes vorstellte. Mit Colt und Katana bahnt sie sich ihren Weg durch das Unterholz, während sie den Sheriff-Hut stolz auf ihrem Kopf trägt. Ein faszinierender Anblick, der beides ist: Erinnerung an das Vergangene und Beginn einer neuen Ära. Showrunnerin Angela Kang, die seit Beginn der 9. Staffel fleißig daran arbeitet, die nächste Phase von The Walking Dead einzuleiten, steuert mit der 6. Folge selbstbewusst einer Zukunft ohne Rick Grimes entgegen. Who Are You Now? fragt der Titel der Episode folglich nicht nur seine Figuren, sondern ebenfalls die Serie selbst.
So sieht The Walking Dead ohne Rick Grimes aus
Was ist The Walking Dead ohne jenen Protagonisten, auf dessen Schultern das Gewicht der vorherigen acht Staffeln lastete? Plötzlich ist Rick verschwunden und hat ein großes Loch hinterlassen. Sprichwörtlich klafft die Wunde in Form der nach wie vor zerstörten Brücke. Wo wir Zuschauer unlängst einen riesigen Wissensvorsprung genießen, ist für die restlichen Überlebenden in Alexandria, Hilltop und dem Kingdom nur eine Sache gewiss: Rick ist tot und wird nicht mehr zurückkehren. Die Welt dreht sich weiter, wie es Michonne (Danai Gurira) gleich zu Beginn der Episode in ihrem Voiceover erzählt, das sich unmittelbar an den Verschollenen richtet. Tage, Wochen und Monate, ja, sogar Jahre vergehen. Michonnes poetische Worte könnten geradezu aus einem Terrence Malick-Film stammen, verbinden sie die Tragik des Erlebten mit der Hoffnung einer besseren Zukunft. Trotzdem verheimlichen sie uns eine düstere Seite, die in der Kriegerin wächst.
Ricks vermeintlicher Tod hat Michonne am härtesten getroffen. Wo Judith (Cailey Fleming) in der toten Vaterfigur Inspiration findet, wird Michonne in eine Ecke des Misstrauens, der Verschlossenheit gedrängt. Den fünf Neuankömmlingen der Episode steht sie alles andere als freundlich gegenüber. Im Gegenteil: Jetzt, wo Ricks Traum einer neuen Welt ansatzweise funktioniert, will sie auf keinen Fall riskieren, dass Fremde das mühsam Erbaute wieder zum Einsturz bringen. So prächtig Alexandria und die anderen Siedlungen blühen - in den vergangenen sechs Jahren hat sich nicht nur ein routinierter Alltag eingeschlichen, sondern ebenfalls ein abgrenzendes Verständnis einer eingeschworenen Gemeinschaft, die den Verlust ihres Anführers durch Regeln auszugleichen versucht, an der Einhaltung dieser jedoch regelmäßig scheitert. Während sich die Gesinnung der Erwachsenen verkrustet, ist es die Jugend, die in Who Are You Now? für Aufbruch sorgt.
Der Generationenkonflikt der Zombie-Apokalypse
Genauso wie Judith aus Idealen heraus handelt, erweist sich Henry (Matt Lintz) als unschuldiger Träumer, der für eine Sache kämpft, von der sich seine Ersatzeltern Carol (Melissa McBride) und Ezekiel (Khary Payton) insgeheim schon verabschiedet haben. Eines Tages werden die Kinder die Erwachsenen verstehen, wenn sie genug Erfahrung gesammelt haben. Bis es so weit ist, bringen sie die Zombie-Apokalypse ordentlich durcheinander, ja, sie fordern sie regelrecht heraus - völlig unabhängig der Lektion, die sie im Anschluss lernen müssen. Im Fall von Judith und Michonne sorgt dieses Austesten von Grenzen für einen stillen Sinneswandel, einen unerwartet ehrlichen Dialog und Blicke, die Verständnis schaffen, wo Worte nicht mehr reichen. Bei Henry und Carol läuft die Situation dagegen dezent aus dem Ruder. Jed (Rhys Coiro), der sich einmal mehr als wilder Cowboy im Grenzland beweisen will, soll am Ende dieser Folge in Flammen aufgehen.
Kühl wendet Carol ihr Gesicht vom Feuer ab, nachdem sie das Benzin über seine Gang verteilt angezündet hat. Als wäre ihr Badass-Faktor nicht schon hoch genug, erhält sie in Who Are You Now? einen weitere denkwürdigen Moment, der uns vor Ehrfurcht erzittern lässt. Egal, wie sehr sich die Figuren äußerlich verändert haben: Tief in ihrem Inneren sind sie die gleichen geblieben, im Guten wie im Schlechten. So erlösend Carols Entscheidung auf den ersten Blick wirkt, mit Jed kurzen Prozess zu machen, so unangenehm ist das Gefühl, das sich nach dem zweiten Blick ausfaltet. Wenn diese Grenze einfach so mitten in der Nacht überschritten werden kann, wie soll diese Gesellschaft überhaupt funktionieren? Immer wieder kommt in dieser Folge das Regelwerk mit mahnenden Worten zu Sprache, gleichzeitig ist klar, dass es einen Spielraum geben muss, um zu überleben. Das Problem ergibt sich allerdings aus der verschiedenen Interpretationen dieses Spielraums.
Was Rick in The Walking Dead verpasst, erlebt Negan
Ricks Abgang wird also am ehesten dadurch deutlich, dass er nicht mehr als richtende Instanz zwischen die aufgebrachte Menge schreitet und für Ruhe sorgt. Trotz einem Rat, der über die Aufnahme neuer Gesichter entscheidet, und einer Sicherheitschefin, die unangenehme Fragen stellt, fehlt der Sheriff, der alles im Blick hat, der eine große Vision verfolgt. Wie schnell und unerkannt die Sache aus dem Ruder laufen kann, zeigt eine ganz besonders unheimliche Szene. Judith sitzt auf den Stufen und macht ihre Hausaufgaben, während ihr Negen (Jeffrey Dean Morgan) aus seinem Gefängnis heraus Gesellschaft leistet. Was eine Mathe-Aufgabe mit der echten Welt zu tun hat, wird im nachfolgenden Dialog diskutiert, den der Bösewicht geschickt mit manipulativen Absichten eingeleitet hat. Zwar bietet ihm Judith schlagfertig Kontra, doch eine Sache kann sie auch nicht leugnen: Negan ist da und sieht sie heranwachsen, während sich Ricks Stimme aus ihrer Erinnerung verabschiedet.
- Apropos unheimlich: Kaum hat Rick die Serie verlassen, fangen die Beißer an, zu flüstern. Bühne frei für die Whisperers.
- "And look how great everything turned out for you." - Judith Grimes
- Können wir ganz kurz über dieses merkwürdige Liebesdreieck zwischen Rosita (Christian Serratos), Gabriel (Seth Gilliam) und Eugene (Josh McDermitt) reden? Selten bewegte sich The Walking Dead auf einem dermaßen schmalen Grat zwischen purem Cringe und eigentlich ganz süßen Momenten.
- Vielleicht braucht es wirklich neue Gesichter, die staunend die Tore von Alexandria durchqueren, um an das Wunder zu erinnern, das dieser Ort und seine Entwicklung in der Zombie-Apokalypse darstellt.
- Eines der schönsten Bilder dieser Episode versteckt sich bereits im Prolog: Daryl lässt einen Beißer leben, dessen Arm mit einem Baum verwachsen ist, während ein Vogel einen Wurm von der Schulter des Untoten pickt, um den Nachwuchs zu füttern. Das Leben findet immer einen Weg, würde Ian Malcolm sagen.
Alle Recaps zur 9. Staffel von The Walking Dead
-
The Walking Dead - Staffel 9, Folge 1: Ein Auftakt wie ein Schlag in die Magengrube
- The Walking Dead - Staffel 9, Folge 2: Ohne Rick Grimes kann diese Serie nicht überleben
- The Walking Dead - Staffel 9, Folge 3: Der Kreis von Ricks Verbündeten wird immer kleiner
- The Walking Dead - Staffel 9, Folge 4: Rick blickt dem Tod ins Angesicht
-
The Walking Dead - Staffel 9, Folge 5: Ricks qualvoller Abschied zeigt, wie gut die Serie sein kann
Die 9. Staffel von The Walking Dead wird sonntags in den USA auf AMC ausgestrahlt und ist hierzulande einen Tag später auf FOX und über Sky Ticket zu sehen. Unsere Besprechungen der einzelnen Folgen gibt es auch als Live-Stream und Podcast .
Wie hat euch die erste The Walking Dead-Folge ohne Rick gefallen?