Im März 1910 sorgte eine Schreckensnachricht für Aufsehen unter leidenschaftlichen Filmzuschauern. “Florence Lawrence”, hieß es da, “Millionen als ‘The Biograph Girl’ bekannt und kürzlich von IMP Co. unter Vertrag genommen, wurde in New York von einer Straßenbahn überfahren und getötet.” Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Neuigkeit. Dann gab Carl Laemmle, in Oberschwaben geborener Sohn eines jüdischen Viehhändlers und Gründer von IMP Co., Entwarnung. Das beliebte Biograph Girl sei gar nicht gestorben, gab er der Presse zu verstehen. Vielmehr handle es sich um eine Verschwörung der mächtigen Patent Companies wie Biograph und Vitagraph, die es gar nicht gern gesehen hätten, dass eine Schauspielerin aus ihren Reihen bei einer unabhängigen Filmfirma anheuert. Die Öffentlichkeit atmete auf und ein Star war geboren. Denn auf einmal kannte jeder den echten Namen des Biograph Girls. Genau das hatte der findige Carl Laemmle bezweckt. Die Todesnachricht hatte er nämlich selbst lanciert.
Wenn auch Filmproduzenten und Publicity-Fachmänner heute zu subtileren Mitteln greifen, um einen Schauspieler ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, hat sich seit diesem schicksalhaften Moment in der Filmgeschichte wenig getan und gleichzeitig ungeheuer viel. Wir entscheiden bei unserer Filmauswahl nach den Gesichtern auf dem Poster, leiden mit den Stars auf der Leinwand und trauern in den Gazetten und Retweets über ihre persönlichen Tragödien. Damals 1910 antizipierte Carl Laemmle genau diese Reaktionen und Entscheidungsprozesse und das zu einer Zeit, in der es nicht üblich war, dass Schauspielernamen in Filmen überhaupt genannt wurden. Florence Lawrence war den Zuschauern nur als Biograph Girl bekannt, weil sie in Produktionen von Biograph einen bestimmten Figurentyp spielte. Dass sich die Zuschauer überhaupt an ihr Gesicht erinnern konnten, ist auf die Veränderung der Filmsprache und Produktionsbedingungen zurückzuführen.
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In ihren Anfangstagen waren Filme überwiegend dokumentarischer Natur, denn die neue Technik als solche barg bereits das, was wir heute als Event-Charakter bezeichnen würden. Erst mit der steigenden Professionalisierung und der damit einhergehenden Vermeidung von aufwendigen Außendrehs, entwickelten sich Frühformen des narrativen, das heißt erzählenden, Films. Werden Geschichten, so simpel sie auch sein mögen, eingefangen, drängt sich naturgemäß der Wunsch nach Schauspielern auf. Das, was wir heute Stars nennen, gab es in den USA bereits im 19 Jahrhundert und zwar im Theater. Die Größen der Bühne hatten es allerdings selten nötig, sich für die als Kunstform längst nicht anerkannten Laufbilder herzugeben.
Stattdessen fanden vor allem Schauspieler aus der zweiten Reihe Arbeit im frühen Film, um beispielsweise die Zeit zwischen Engagements zu überbrücken. Etwa um 1907 begann sich in den USA die Vorstellung vom “Filmschauspieler” als Beruf durchzusetzen. Dieser konnte mittlerweile in Vollzeit ausgeübt werden und in der Presse wurde über die Leistung von Darstellern geschrieben. Gleichzeitig wandelte sich die Filmsprache. Wurden viele frühe Stummfilme mit weiten, statischen Einstellungen aufgenommen, die es einem unmöglich machten, das Gesicht der Schauspieler zu erkennen, wurden mit der Entwicklung des narrativen Films verstärkt Großaufnahmen und halbnahe Einstellungen genutzt. Geschichten arbeiten mit Figurentypen, ähnliche Figurentypen werden häufig mit demselben Schauspieler besetzt, um einen Wiedererkennungswert zu schaffen, und aus der unbekannten Florence Lawrence wurde Das Biograph Girl.
Die Nennung von Schauspielernamen im Film setzte sich in den USA erst 1911 durch. Carl Laemmle gehörte dahingehend zu den Pionieren unter den Produzenten, denn er verstand, welches Kapital aus einem bekannten Namen zu schlagen ist. Zwei Jahre nach der “Todesmeldung” von Florence Lawrence fusionierte Laemmle seine Firma mit anderen und gründete Universal Pictures. Er gehörte damit zu den Vätern des sogenannten Studiosystems, das die Herrschaft der Patent Companies ablöste und das Goldene Zeitalter Hollywoods formte. Es war eine Epoche der Filmgeschichte, in der Stars von Produzenten Namen, Privatleben und sexuelle Orientierung diktiert bekamen, in denen sie jahrelang vertraglich an ein Studio gebunden waren und wie dessen Eigentum behandelt wurden. Das hatte triftige Gründe.