"Brumm Brumm?", schreibe ich und sehe in der rechten unteren Ecke meines Bildschirms die Reaktion meines Freundes aufploppen. Wir treffen uns in einem Teamspeak-Channel und die wilde Fahrt kann beginnen. Nach einigen Stunden endet unser gemeinsamer Abend in Grid: Autosport, doch ich bin noch nicht müde. Ich befinde mich in einer dieser glücklichen Situationen, in denen ich müde genug bin, um nicht leicht gelangweilt zu sein, aber nicht so müde, dass ich unaufmerksam werden würde. Es ist Zeit einen Film zu sehen.
Netflix auf, andere Tabs schließen, Licht aus und mit einem vorbereitenden Schluck Wasser zwischen den Backen scrolle ich gespannt durch Netflix. Umgeben von hippem 70er-Gelb schaut mich ein junger Mann ernst durch die Öffnung seines Rennhelms an. "Weekend of a Champion" - genau mein Thema. Der Film beginnt, das HUD verblasst und Roman Polanski präsentiert.
Eine kleine Gruppe Polizeibeamter schreitet in einer losen Reihe die Rennstrecke hinab. Die Menge schreit unverständlich im Chor. Ein Trauermarsch? Oder soll der Trauermarsch nur angedeutet werden um mich auf die gewaltsamen Ereignisse später im Film vorzubereiten? Ein Helikopter zieht über der unruhigen Menge eine Kurve. Signaltafeln werden aufgestellt, Barrikaden platziert und das Rennen vorbereitet. Ich betrachte jeden Helfer, jeden Fan als Mittäter und Zeugen des bevorstehenden Unfalls.
Das Opfer, Jackie Stewart tritt neben seiner Freundin ins Freie, leise übers Wetter fluchend und immer wieder zum bedeckten Himmel aufblickend. Die Sorgen werden ignoriert und die Menge tobt - ihr Champion ist da. Dieser steigt in seinen V8-Sarg und umrundet die Strecke in deren Kurven mutige Männer mit Fotoapparaten stehen und sich eine hübsche Aufnahme erhoffen. Stewart steigt wieder aus und kämpft sich Autogramme gebend durch die Menge zu seiner Garage, zu seinem Hotelzimmer, zu seinen Mechanikern, mit Kollegen über den Wagen und das Wetter sprechend.
Am nächsten Morgen sitzt er spärlich bekleidet gegenüber Roman Polanski am Frühstückstisch und preist seine Kurvenstrategie an. Was neben ihm viele große Rennfahrer täten, sei das langsame, gefühlvolle Abbremsen vor der Kurve und das zarte, frühe Beschleunigen, das eine ruhige Fahrzeuglage und damit sicheres Fahren sicherstelle. Ich nehme gedanklich Notizen. Im Hintergrund brummen Wägen über die Strecke, die zur Überraschung des Rennfahr-Stars schnellere Rundenzeiten erzielen als er selbst.
Eine gefährliche Strecke, schlechtes Wetter, eine kleine Portion Überheblichkeit und großer Leistungsdruck. Der Perfekte Mord. Gedanklich nicke ich grinsend dem Regisseur zu, der all diese alten Aufnahmen gesammelt und zusammengestellt haben muss um genau diese Rezeptur zu präsentieren. Ich erwarte eine Wendung, die Jackie, der doch noch viel zu jung und zu beliebt zum sterben ist, vorerst vor seinem frühen Ende bewahren soll. Diese zeichnet sich allmählich ab. Ich lausche dem jungen Fahrer und begeistere mich für seine Expertise, für seine Redeweise, seine Kleidung, seine Bartmode, seine Zeit. Ich sympathisiere mit ihm, ich trauere um ihn, obwohl er doch gar nicht weiß, dass ihm und seinem sozialen Umfeld großes Leid bevorsteht.
Wann in der Filmgeschichte war es möglich, einem Mann bei seiner kunstvollen Tätigkeit, seinem Fachgebiet, in seinem Element zuzusehen und zu wissen, dass er trotz all des Talents und des Könnens damit nur auf seinen eigenen Untergang zusteuert? Als würde Captain Philipps in seinem Kampf mit den Piraten an seiner fetten Kapitänsplauze ersticken - nur cooler und unglaublich tragisch. Als würde ein Junge, der Kolosse tötet um die Prinzessin zu retten, sich mit seiner mordenden Tätigkeit mehr Schaden zufügen als erahnt. Ich wittere einen neuen Lieblingsfilm.
Jackie Stewart schneidet sich am Morgen des Renntags beim Rasieren und scherzt darüber, dass er ja seinen Arzt dabei habe. Seine Freundin sitzt auf dem Bett und lacht. Das Ende ist nah. Ich fühle es.
Der Film geht weiter und weiter, das Rennen nähert sich seinem Ende und plötzlich bietet sich nebenbei der ungeahnte Twist dar. Jackie Stewarts Stimme erklingt aus dem Off. Er lebt? Das Wochenende des Champions enthält nicht seinen Todestag? Kein Unfall? Roman Polanski, Frank Simon - ihr Nasen! Wo ist mein tragisches Ende? Wo ist mein neuer Lieblingsfilm?
Schnitt. Polanski und Stewart sitzen als alte Männer im Hotelzimmer und schauen "Weekend of a Champion", der 1973 bereits unter der Regie von Polanski erschien. Die beiden reden über die großen Verbesserungen der Sicherheit im Motorsport. In diesem Film wird einem nicht nur das Sahnetörtchen gezeigt, von dem man nicht kosten kann. Es wird das Gespräch am Schluss noch als Kirsche hinaufgesetzt und davon erzählt, wie oft in der Motorsportgeschichte die Fans bereits durch den Unfall ihres Champions das bittersüße Sahnetörtchen zu schlucken hatten. Ich bin kein Fan von irgendwelchen Rennfahrern, sondern von bewegenden Geschichten. Ich habe Heißhunger auf Sahnetörtchen. Nicht, dass ich mir ernsthaft den Tod von Jackie Stewart wünsche, aber was soll dieser Film? Wo ist mein verdammtes Sahnetörchen?