Manchmal muss erst einer "Feuer" rufen, bevor sich alle in Bewegung setzen. Bei dem deutschen Fernsehen ist das etwas anders. Dem wurde seit Jahren unentwegt "Feuer" ins Ohr gebrüllt und es saß einfach da und streichelte mit geistesabwesendem Lächeln seine schnurrenden Casting-Shows, die traurig waren, weil sie niemand mehr schauen wollte. Das wird schon wieder, raunte das Fernsehen, du bist ok, wie du bist und wenn sich das mit dem Internet erst wieder erledigt hat, dann mögen dich auch alle wieder. Es wurde nicht, mittlerweile weisen ja selbst die populärsten Circus HalliGalli-Clips bei YouTube weit weniger Klicks auf als Bibis Wap Bap-Song Dislikes.
Wie schlecht es um das Fernsehen wirklich steht, zeigt sich vor allem daran, dass bei der vielleicht unterhaltsamsten Fernsehshow des Jahres niemand zuschauen durfte, außer das Fernsehen selbst, beziehungsweise jene, die es machen. Die Screen Force Days 2017 in Köln, wo viele deutsche Sender letzte Woche ihr Programm für die Saison 2017/18 vorstellten, sollen eine wahre Sause gewesen sein. Es wurde mit verheißenden Namen wie Boris Becker jongliert, wie sonst nur mit Privatexistenzen, und Xavier Naidoo wurde extra aus Mannheim für ein Konzert zugeschaltet. Dazu gab es Live-Auftritte von den Fantastischen Vier, Mark Forster und Yvonne Catterfeld und natürlich das auf zwei Tage verdichtete Fernseh-Entertainment der kommenden 12 Monate. Und Stefan Raab war da. Köln bebte.
Am meisten Rücklauf in der Berichterstattung, mehr sogar noch als die Verlängerung von Ingo Lenßens Rechts-Call-In Show durch Sat.1 Gold (Nochmal: Ingo. Lenßens. Rechts.-Call. -In. Show), bekamen die Ankündigungen der neuen Shows für Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf, die die große Hoffnung des Fernsehens sind, weil sie Fernsehen machen, das mit seiner Wildheit dem Aufmerksamkeitssog des Internets widerstrebt und eigenständig bleibt als Medienerzeugnis. Mit Circus HalliGalli und Die Beste Show der Welt persiflierten sie das alte Showfernsehen und vernähten es mit neuen grellen Einflüssen. Sie bewiesen, dass im deutschen Privatfernsehen intelligenter Blödsinn geschätzt wird und neben Hochglanz-Trash existieren, vielleicht sogar über ihn triumphieren kann. Während das übrige Fernsehen allen Ballast (Anstand, Würde, Moral, Klamotten) über Bord wirft, um irgendwie wettbewerbsfähig zu bleiben, sehen Joko und Klaas in der Fernsehkrise eine kreative Chance zur Neuausrichtung.
In gleißendes Licht durch eine Studiotür hinaus in die große Freiheit der fernsehkulturellen Selbstverwirklichung entließ ProSieben Joko und Klaas deshalb vor einer Woche. Auf dass sie die Senderseele, ja die des deutschen Fernsehens retten mögen. Klar, Joko und Klaas werden eigene Shows gefordert haben, die Teilemanzipierung mussten sie früher oder später wagen. ProSieben allerdings kann die Aufspaltung seines Show-Kapitals nur recht gewesen sein. Die Auswalzung des Duos, in dem sich allzu viel Qualität für nur eine einzige Show ballte, drängte sich programmtechnisch auf.
Wie die Teilung vonstatten gegangen wäre, wäre dem Sender egal gewesen. Anstatt Joko und Klaas in einen Joko und einen Klaas zu spalten, hätte der wahrscheinlich lieber zwei halbe Jokos und zwei halbe Klaase aus ihnen gemacht. Wenn man Joko und Klaas durch zwei teilt, hat man immerhin zwei halbe Jokos und zwei halbe Klaase, man hätte also immer noch einen weiteren halben Joko und einen weiteren halben Klaas in der Hinterhand, wenn es mal nicht so gut läuft. Ein halber Joko zum Beispiel könnte immer noch Galileo moderieren und der andere halbe Joko vorher taff, wenn auch mit Unterstützung eines ganzen und sowieso stets muskulöser werdenden Daniel Aminati. Ein halber Klaas überdies ist immer noch gewandter als ein ganzer Elton und würde am Wochenende ganz allein die neuen Folgen Schlag den Henssler bestreiten. Wenn je ein halber Joko und ein halber Klaas zufällig gemeinsam Zeit haben, könnten sie zudem locker das Jury-Duo von Germanys Next Topmodel ersetzen, die den Kandidatinnen immer so viel Angst einjagen. Das kriegen Joko und Klaas auch hin: "Wenn ich du wäre, würde ich mit einem vollkommen fremden Typen auf der Straße knutschen und davon ein Selfie machen." Was ich sagen will: Das Fernsehen braucht mehr Joko und Klaas. Sie halten eine im Fernsehen einmalige Balance zwischen Originalität, Selbstironie und Aufmerksamkeitsmasochismus.
Um die Entwicklung des Privat-Fernsehens in den letzten Jahre zu verstehen, müsst ihr Naked Attraction gesehen haben und am besten auch Adam und Eva und vielleicht sogar Der Bachelor und Kay One - Prinzessin gesucht!, aber das wäre nun wirklich zu viel verlangt, deshalb bleiben wir erstmal bei Naked Attraction. Naked Attraction ("Dating hautnah") will RTL II zufolge zwar herausfinden, "wie ich auf andere wirke, wenn ich mich nicht hinter schicker Kleidung und coolen Accessoires verstecken kann". Letztlich geht es der Show aber doch vorrangig darum, nackte Menschen zu zeigen.
Als Circus HalliGalli im Frühling unter der Goldenen Kamera, jährlich ein Tiefpunkt der Fernsehunterhaltung, eine Falltür öffneten, war das der gleichzeitig größte und peinlichste Moment in der Geschichte der Show. Hier ist besonders gut zu sehen: Das Fernsehen verwirklicht sich erst im Moment größtmöglicher Aufmerksamkeit. Das deutsche Privat-Fernsehen hat schon lange gelernt, dass es nicht gut sein muss, um geschaut zu werden. Im Gegenteil: Viele Sendungen werden offen produziert, um schlecht gefunden zu werden. Vielen passiert das auch versehentlich, der ZDF Fernsehgarten etwa trendet bei seiner Ausstrahlung am Sonntagvormittag regelmäßig bei Twitter. Absichtlich schlechtes Fernsehen wie auch organische Fernsehunfälle garantieren den Sendern einen Haufen Second-Screen-Aufmerksamkeit. Aus dem spritzt größtenteils saurer Schmäh, der sich in die Twitter- und Facebooktimelines schleicht und damit in die Smartphones einer Mittzwanzigerin, die kurz in die unendlichen Weiten des Internets abtauchen will, während im Hintergrund irgendein großer Orange is the New Black-Moment weiterläuft, auf ewig vom vierten Netflix-Familyaccount ungeguckt. So macht das Trash-TV-Feuilleton in den Sozialen Medien Werbung für ihre Spott-Ziele. Wenn das Fernsehen zum Ironisch Gucken von den Sendern konzeptuell aufgegriffen wird, zeigt das nur, dass es sich selbst nicht besonders mag. In Maßen ist das voll okay, bei drei Dschungelcamps im Jahr aber verliert auch der Trash seine besondere Attraktivität. Wenn das Fernsehen nur noch schlecht sein will, ist das schlecht fürs Fernsehen.
Joko und Klaas wirkten dem schon immer entgegen. Und ihr Einfluss in der Branche ist groß, Joko unterhält gemeinsam mit Matthias Schweighöfer eine Produktionsfirma, die sich auf experimentelle Projekte spezialisiert. Auch Klaas pflegt ein Branchennetzwerk mit Jan Böhmermann, Olli Schulz und der ganzen Ex-VIVA-Clique. Jetzt geht es mit neuen Shows weiter und getrennt. Gefühlt 70 Prozent aller ProSieben-Shows werden 2017/18 von Joko und/Klaas moderiert. Von mir aus könnten das ruhig noch ein paar mehr sein.