Wie es war, mit Eric Cantona zu arbeiten

02.11.2009 - 13:22 Uhr
Fußball und Männerfreundschaften
Delphi
Fußball und Männerfreundschaften
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Paul Laverty, der das Drehbuch für Ken Loachs Film Looking for Eric verfasst hat, schreibt über die Schönheit des tödlichen Passes beim Fußball und Männer, die süchtig sind nach der Anerkennung von 50.000 johlenden Fans. Außerdem berichtet Laverty, wie das Drehbuch für Looking for Eric entstanden ist.

Als mir Ken Loach sagte, dass Eric Cantona sich gerne mit ihm treffen wollte, war ich mir nicht ganz sicher, ob das nicht mal wieder einer seiner Scherze war. Ich wusste, dass er gelitten hatte, weil sein geliebtes Team Bath City mit einigen Problemen zu kämpfen hatte. Ich dachte, dass er jetzt anfängt zu fantasieren. Aber dann war Eric auf einmal tatsächlich da… Der König selbst saß bei uns im Büro.

In dem Treffen diskutierten wir ein kurzes Treatment, das Eric und seine Brüder für die französische Filmproduktion Why Not vorbereitet hatten und das von einem echten Fan handelte, der Eric von Leeds United zu Manchester United gefolgt war und deswegen seinen Job, seine Freunde und seine Familie verloren hatte. Ich sah darin einige starke Möglichkeiten, aber letztlich hat eine fiktive Geschichte und das, was sie an Freiheit bietet, eine ganz eigene Kraft und einen enormen Sog.

Vielleicht war es die heftige Grippe, die mich an dem Tag unseres Treffens quälte, aber in jedem Fall wanderten meine Gedanken während des Gesprächs immer wieder zu einigen dieser wundervollen Tore, die Eric in seiner Karriere geschossen hat. Sein Gefühl für den Ball, seine Eingebungen, sein Temperament, der berüchtigte Karate-Kick, die ‚Sardinen’-Metapher auf der Pressekonferenz danach, die Lieder seiner Fans und – aus keinem anderen Grund, als dass es sich mir in mein Gedächtnis eingebrannt hatte – sein legendäres Tor gegen Sunderland und die Genugtuung in seinem Blick danach. So oder so war Ken Loach und mir sofort klar, dass uns Erics spannende Persönlichkeit – auf dem Spielfeld und außerhalb – viele faszinierende Möglichkeiten eröffnete.

Nach zwei wirklich harten und ernsten Filmen [It’s a Free World und The Wind That Shakes the Barley] waren Ken Loach, Rebecca (Produzentin) und ich uns völlig einig darin, dass es unserer geistigen Gesundheit zuliebe in unserem nächsten Projekt möglichst viel Heiterkeit geben sollte. Eine ganze Zeit lang hatte ich mit Ken über eine mögliche Story gesprochen, in der es um Großeltern geht. Mir war klar, dass den Geldgebern dabei nicht gerade das Wasser im Munde zusammenlaufen würde, aber seit meine eigenen Kinder zur Welt kamen, bin ich immer neugieriger geworden auf die seltsam verwobene und vielschichtige Rolle, die Großeltern in unserem Leben spielen. In vielerlei Hinsicht halten sie die Welt am Laufen, sind aber – abgesehen von wenigen Ausnahmen – auf der Leinwand entweder unsichtbar oder nur sehr stereotyp dargestellt.

Ältere Protagonisten eröffnen einem aber ein unglaubliches Reservoir an Vergangenheit und vergangenen Erlebnissen – ich war also fasziniert von der Idee einer Geschichte, die in die Vergangenheit blickt, während sie in der Gegenwart passiert. Unsere Vergangenheit ist nicht vergangen. Wir tragen oder schleppen sie mit uns herum.
Zahllose Fragen und widersprüchliche Gefühle kamen immer wieder in mir hoch, wenn ich mich damit auseinandersetzte. Ich fragte mich, wie wir die Wendepunkte unseres Lebens definieren, wie Menschen, denen wir auf unseren Wegen begegnen, unauslöschbare Eindrücke in unserer Seele hinterlassen, und wen wir möglicherweise an unser Totenbett holen würden. Ich dachte über die Zufälle des Lebens nach, über das besondere Timing beispielsweise, das zwei Menschen zu einem Paar machen kann, und wer diese Menschen eben in diesem Moment der Begegnung sein müssen, damit es passt.

Die Fehler der Vergangenheit können in uns gären, Schuld und Scham können in uns hin und her schwappen und einen gewaltigen Schatten auf unsere Gegenwart werfen. Ich habe über unsere fantastische Gabe der Erinnerungsfähigkeit nachgedacht, die dafür sorgt, dass ein Ereignis, das 30 Jahre zurückliegen mag, immer noch so brennen und schmerzen kann, als wäre es gestern passiert. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, was ‚hängen’ bleibt, was uns verändert und was für ein komplexes Unterfangen es ist, sich gegenseitig zu verstehen.
Was ist verborgen und was ist einfach zu schmerzhaft, um sich dem auszusetzen? Ich dachte über unsere Fähigkeit nach, nicht nur anderen, sondern auch uns selbst zu vergeben, und darüber, was mit unserem Selbstvertrauen und unserer zerbrechlichen Sicht auf uns selbst geschieht, wenn wir älter werden. Was aus uns wird, hat selten viel mit dem zu tun, was wir uns in unseren furchtlosen Tagen mit Anfang Zwanzig vorgestellt haben.

Ein langes Leben kann ein heilloses Durcheinander werden, und es ist eine endlose Herausforderung, all die verschiedenen Schichten auszutarieren, die immer wieder neu aufgetragen werden und sich in einer andauernden Wechselwirkung zueinander befinden. Manchmal ist die Gefahr des Abrutschens von einem Moment der Krise zum mentalen Zusammenbruch näher, als wir es uns selbst eingestehen. Vielleicht vermengten sich einige dieser Gedanken mit meiner Grippe, meinen Gesprächen mit Ken Loach und dem Unerwarteten – Erics Tor gegen Sunderland. Dieser Treffer war alles andere als gewöhnlich. Es war ein Moment von großer Eleganz: Sein physisches Können, sein Ausdribbeln von zwei Verteidigern, sein erhabenes Passspiel mit seinem Mitspieler Brian McClair – man konnte regelrecht spüren, wie sich die Aufregung der Massen im Stadion auflud – und dann schließlich dieser unverfrorene Einfall, den Ball anzuschneiden und in einem wunderschönen Bogen nur paar Zentimeter vom linken Pfosten ins Tor zu setzen. Die Masse toste vor Vergnügen und Verblüffung. Wer so ein Tor erlebt, versteht, was Eduardo Galeano damit meinte, als er das Tor als den Orgasmus beim Fußball bezeichnete. Es war allerdings nicht dieser Orgasmus, sondern Erics Pose danach, die mich umgehauen hat: Cantona streckt seine Brust heraus und würdigt damit alle Anwesenden im Stadion, während er sich einmal komplett im Kreis dreht – als würde er jedem einzelnen der 50 000 Fans in die Augen schauen und sagen: „Mein Geschenk an Euch!“ Es war ein Moment großen Selbstbewusstseins – ein Mann und ein Stadion vereint.

Aus keinem besonderen Grund konnte ich – wenn man so will – einen flüchtigen Blick auf einen Mann namens Eric Bishop in den Zuschauerrängen erhaschen. Dieses Tor half ihm Monate lang durch sein chaotisches Leben. Wenn wir auf unseren ‚kleinen’ Eric treffen – den Vater, Stiefvater, Großvater, mindestens zweimal Geschiedenen – sind seine Cantona-Tage und gemeinsamen Stadionbesuche mit seinen Freunden lange vergangen. Im Gegensatz zum ‚großen’ Eric hat er das Gefühl, dass die Menschen ihn durchschauen. Er hat nicht nur das Gefühl, die Kontrolle über alles um ihn herum zu verlieren, sondern – viel schlimmer noch – er spürt, dass er sich nicht mal mehr auf sich selbst verlassen kann.
Wenn der ‚kleine’ Eric sich selbst betrachtet, sieht er einen verlorenen Mann und einen Abgrund. Ich habe mit vielen Möglichkeiten gespielt, diese beiden Erics zusammenzubringen, und mir ausgemalt, was passieren würde – und nichts hätte uns mehr Freiheit bieten können, als diese Begegnung im Kopf von Eric stattfinden zu lassen. In einer Zeit, in der er im Kampf mit seiner Vergangenheit und Gegenwart das Gefühl hat, den Verstand zu verlieren, und sich am liebsten vor der ganzen Welt in seinem kleinen Schlafzimmer verstecken will. Kann Eric Bishop sich selbst wiederfinden?

Ken Loach und ich haben viele Möglichkeiten durchgespielt, daraus einen Film zu machen, aber es blieb alles eher abstrakt bis zu unserem nächsten Treffen mit Eric, um dieses seltsame Nebeneinander unserer Ideen zu besprechen.
Würde der große Eric es gut finden, das Produkt der Einbildung eines mental instabilen Großvaters zu sein? Würde er es mögen, ein Joint rauchender, ziemlich unkonventioneller Psychocoach zu sein? Und konnte er Rock ’n’ Roll tanzen? Zumindest wusste ich vorher, dass er die klugen Sprüche aus dem Zitate-Lexikon lieben würde. Als ich mich zum nächsten Treffen mit Eric nach Paris aufmachte, wusste ich wirklich nicht, was aus all dem werden würde.

Zunächst einmal ging es darum zu sehen, ob Eric offen für diesen verrückten Plan ist, und zum anderen wollte ich ein Gespür für diesen Mann aufbauen. Es wurden ein paar fantastische Tage aus diesem Treffen. Wir lachten lauthals über einige der albernen Szenen, die wir uns schon ausgedacht hatten, und stellten uns noch viele andere vor. Vom ersten Moment an war er sehr bescheiden und hatte kein Problem, über sich selbst zu lachen. Wichtig war mir auch, dass er tatsächlich ein Mitgefühl für unseren fiktiven Eric und sein Leben entwickelte.

So hatte ich eine enorme Freiheit beim Schreiben des Drehbuchs und außerdem eine große Inspiration durch Eric selbst. Er gab mir in diesen paar Tagen ein paar echte Perlen mit und schaffte es – wie es sich für einen Cantona geziemt – mich mehr als einmal mit seinen Ansichten und Einsichten zu überraschen. Ich fragte ihn beispielsweise, wie es sich anfühlt,wenn 50 000 Menschen seinen Namen anstimmen und Lieder über ihn singen. Er antwortete, dass ihm das Angst gemacht habe… Angst, dass es aufhört. (Das erinnerte mich an Maradona: „Ich brauche es, dass sie mich brauchen.“). Er sagte mir, er sei in jedes Spiel mit dem Vorsatz gegangen, die Fans zu überraschen, und das ihm das nur gelingen konnte, wenn er zunächst sich selbst überrascht.

Ich fragte ihn nach seinem größten Fußballmoment und war überzeugt, ich würde ein Entscheidungstor in einem Meisterschaftsfinale bekommen. Doch auch da überraschte er mich und verriet, dass sein größter Fußballmoment sein Pass zu Ryan Giggs sei. (Wir haben leider keine Aufnahmen von diesem Pass und dem folgenden Tor gefunden und verwendeten im Film deswegen einen anderen Pass, an den ich mich immer erinnern werde: Cantonas Pass zu Irwin). Aber was wäre gewesen, wenn Giggs nicht getroffen hätte? Erics Antwort darauf: „Du musst deinen Mitspielern vertrauen. Immer.“ Das passte perfekt zu den zentralen Ideen des Films, in dem der kleine Eric wieder den Mut findet, Risiken einzugehen, und trotz seiner Zerbrechlichkeit wieder lernt, seinen Freunden und Lily zu vertrauen.

Ich befragte ihn zu seiner neunmonatigen Sperre – einer langen Zeit, wenn man bedenkt, wie kurz die Karriere eines Profifußballers ist – und wie es ist, wenn ein so geordnetes, diszipliniertes Leben voller Trainingsroutinen abrupt aufhört, gar nicht zu reden von dem Adrenalinrausch, wenn man in einem voll gepackten Stadion spielt. Ich fragte ihn, wie er mit dieser plötzlichen Ruhe und auch Einsamkeit umgegangen ist, und er antwortete, dass er etwas Neues finden musste, um sein Leben auszufüllen. „Ich habe versucht, Trompete zu spielen“, sagte er mir. Was soll man davon halten? Das Fußballgenie, das in der einen Woche noch von den Massen verehrt wurde, sitzt in der nächsten Woche einsam bei sich zu Hause und kämpft mit seinen Fingern, seinem Daumen und seiner Puste, um einer Trompete ein paar Töne zu entlocken.

Auf einen Schlag wird einem bewusst: egal wer wir sind, ob ‚großer’ oder ‚kleiner’ Eric, wir versuchen alle auf unsere Art, jedem einzelnen Tag einen Sinn zu geben. Ich liebe diese surreale Szene, in der ‚Big Eric’ mit seiner Trompete und ‚Little Eric’ mit seinen Erinnerungen auf dem Balkon in einer Wohnsiedlung stehen und über Manchester und die Welt dahinter blicken. Und jede der falschen Noten, die Eric auf seiner Trompete anspielt, ist magisch für mich, eine Hymne an all die unvollkommenen, chaotischen Leben da draußen, ein Fest unserer Zerbrechlichkeit und eine Fanfare, die uns daran erinnert, denen zu vertrauen, die uns lieben. Immer.

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