Superhelden haben es nicht leicht. Als wäre die unwiderrufliche Gefangenschaft in einem Zirkel aus gigantischer Verantwortung und Gewalt nicht schon genug, haben sie in der Regel mit Identitätsproblemen zu kämpfen: Die verbindliche Pflicht, das Dasein als Superheld im Verborgenen zu halten, resultiert nicht nur in einem belastenden Doppelleben, sondern auch in der Unfähigkeit, wirklich tiefgreifende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Das sind ganz klassische Motive im großen Universum der Comichelden, doch Marvel's Daredevil scheint sich besonders für die Identitätsfragen seiner Figuren zu interessieren. Speak of the Devil und Nelson v. Murdock machen sich diese Thematik zu nutze, um zwei der stärksten Episoden dieser Staffel zu liefern.
Ein Kernstück der ersten Episode ist das erste Zusammentreffen zwischen Matt Murdock (Charlie Cox) und Wilson Fisk (Vincent D'Onofrio) in der Kunstgalerie von Vanessa (Ayelet Zurer). Unter dem Vorwand, ein Gemälde zu kaufen, lässt sich Matt von Vanessa und Fisk beraten und kommt seinem Nemesis so erstmal wirklich nahe. Die Intention hinter dieser Aktion leuchtet nicht so ganz ein, schließlich wird Matt wohl kaum vorgehabt haben, seine Identität auffliegen zu lassen und Wilson in einer vollen Galerie umzubringen, auch wenn er sichtliche Schwierigkeiten damit hat, seine Aggressionen unter Kontrolle zu halten. Viel mehr handelte es sich hierbei wohl um eine kleine persönliche Expedition in Wilsons Privatleben. "Have you changed your mind about what you came for?", fragt Vanessa Matt, als er gehen will, ohne etwas gekauft zu haben. "No, I just need to consider the cost", erwidert er daraufhin und meint damit natürlich die Kosten von Wilsons potentiellem Tod. Denn auch wenn Matt sichtlich Spaß daran hat, seinen unterdrückten Aggressionen freie Hand zu lassen und seine Gewaltausbrüche zu genießen, so verweigerte ihm sein moralischer Kodex zumindest stets das Töten. Dass es sich dabei um einen Bösewicht im Kaliber von Wilson Fisk handelt, macht die Sache für Matt nicht leichter, wie das anfängliche Gespräch mit Father Lantom (richtig toll: Peter McRobbie) bewiesen hat. Denn so abscheulich ein Mensch auch sein mag, ihn zu töten bedeutet auch immer, seine Angehörigen zu verletzen. Matt weiß ganz genau, wie sich so ein derartiger Verlust anfühlt: Mit Jack und Stick musste er gleich zwei Mal erleben, eine wichtige Person zu verlieren. Es ist eine Erfahrung, die er niemandem antun möchte und so gilt es, die Folgen solch eines Mordes abzuschätzen.
Als Daredevil und Kingpin schließlich erstmals aufeinander stoßen, ist von diesem moralischen Dilemma verständlicherweise nichts zu spüren, schließlich handelt es sich hierbei um einen nackten Kampf ums Überleben. Es ist eine wichtige Szene, weil sie Fisk auch als physische Bedrohung für Matt etabliert und nicht nur als Fadenzieher. Repräsentativ ist dieser Kampf jedoch nicht, schließlich befindet sich Matt nach der Auseinandersetzung mit Nobu in keinem Zustand, um einem Gegner von Fisks Format gegenüber zu treten. Es kommt, wie es kommen muss, und Matt kassiert infolge eines gewohnten Wilson-Ausrasters die volle Breitseite. Zwar kann er sich in letzter Sekunde vor dem Tod retten, doch es bleibt eine Niederlage mit verheerenden Konsequenzen; auch für Matts körperliche Verfassung, vor allem aber für seine Freundschaft zu Foggy (Elden Henson), der ihn in Matts Wohnung maskiert und beinahe verendet auffindet und von seiner wahren Identität ziemlich überrascht ist.
Genau genommen ist diese Entdeckung für ihn sogar eine gigantische Katastrophe, die nicht bloß damit zusammenhängt, dass er Vigilantismus verabscheut, wie wir in den vorangegangenen Episoden mehrfach gemerkt haben. Foggys Schmerz wurzelt gar nicht in einer - ebenso nachvollziehbaren - Unvereinbarkeit von Selbstjustiz und Gesetzestreue. Dass eine professionelle Partnerschaft dadurch ausgeschlossen ist, liegt ebenso auf der Hand wie es zweitrangig ist. Für Foggy ist die Entdeckung von Matts Identität als Daredevil eines dieser Ereignisse, das eine gemeinsame Zeit rückwirkend zerstören kann, so schön sie auch gewesen sein mag. “Was anything ever real between us?” ist die Frage, die er als Resultat aus dem Gespräch ziehen muss. Wir bekommen keine Antwort darauf, stattdessen aber einen Flashback aus der gemeinsamen College-Zeit, der Matt und Foggy ganz normal - unbeschwert und betrunken - beobachtet. Im Wechselspiel mit den Dialogen in Matts Wohnung sind diese Rückblicke überaus kraftvoll und sie geben Elden Henson genug Raum, um sich mit seiner Figur ein wenig auszutoben. Leider hat Daredevil das Verhältnis der beiden bis zu diesem Zeitpunkt nur am Rande behandelt. Die tiefe Verbundenheit, die sie füreinander empfinden, blieb im Verlauf der Staffel unglücklicherweise unerforscht, sodass dieser plötzliche Ansturm von Reminiszenz nicht sein gesamtes Potential entfaltet. So oder so hat diese Freundschaft ihren absoluten Tiefpunkt erreicht, der wohl bis auf weiteres auch nicht verlassen wird.
Das heißt aber keineswegs, dass Foggy auf Knopfdruck alle Sympathien Matt gegenüber ausstellen kann. Als Karen (Deborah Ann Woll) anruft, lügt er sie sogar an, um die wahre Geschichte um seinen Aufenthalt bei Matt zu verschleiern. Glücklich ist er darüber natürlich nicht: "You made me lie to somebody I care about" ist infolgedessen gleich der nächste Vorwurf, den Foggy seinem Freund an den Kopf wirft. Eine grundlegende Loyalität ist also nach wie vor gegeben, doch die letzten Szenen von Nelson v. Murdock machen dennoch nicht besonders große Hoffnungen darauf, dass die beiden sehr schnell an alte Zeiten anknüpfen können.