100 Prozent auf Rotten Tomatoes: Vor 55 Jahren erschien ein Meisterwerk, das Stanley Kubricks kontroversesten Film inspirierte

25.10.2024 - 19:55 Uhr
Funeral Parade of Roses
Rapid Eye Movies
Funeral Parade of Roses
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Stanley Kubricks kontroverser Klassiker Uhrwerk Orange wurde unter anderem von einem Meisterwerk der Japanese New Wave-Filmbewegung inspiriert. Es feierte gerade erst Jubiläum.

Japanische Filme, die älter als 50 Jahre alt sind, assoziieren die meisten mit sehr formellen und disziplinierten Werken von Nachkriegshumanisten wie Ozu oder Kurosawa. Doch zum teilweise ausschweifenden Extrem-Kino heutiger Größen wie Sono und Miike gibt es ein wichtiges Verbindungsstück, das die vielleicht wildeste Zeit in der japanischen Filmgeschichte darstellte: die Japanese New Wave.

Zu dieser Zeit, von den späten 1950er bis in die 70er Jahre, traten subversive Auteur-Filmemacher wie Oshima oder Yoshida hervor. Die stellten nicht nur die vorherrschende Filmform in Frage, sondern hatten das ein oder andere Hühnchen mit der japanischen Gesellschaft zu rupfen und nahmen bisher ungesehene Perspektiven ein. So auch in einem meiner persönlichen Lieblingsfilme, Funeral Parade of Roses aka Pfahl in meinem Fleisch, der sogar Stanley Kubricks Uhrwerk Orange inspiriert haben soll.

Funeral Parade of Roses: Das japanische Meisterwerk, an dem Stanley Kubrick sich bediente

Der Avantgarde-Film von Toshio Matsumoto nimmt uns mit in die LGBTQ-Szene von Tokio während der 1960er Jahre. Hier buhlen die moderne Eddie (atemberaubend: Shinnosuke 'Peter' Ikehata) und die altmodische Leda (Osamu Ogasawara) um die Gunst des Drogendealers Gonda (Yoshio Tsuchiya) und die Position der leitenden Mama-san in dessen Nachtclub. Die nicht-lineare Erzählung wird dabei immer wieder von experimentellen Sexszenen mit Leierorgelmusik sowie Interviews mit den Darstellenden unterbrochen. Für viele der Laien-Stars war es der erste und einzige Film.

Die heute sehr unterschiedlich definierten Begriffe von schwul, Dragqueen/Transvestit und Transgender werden hier noch viel fließender verhandelt. Eddie wird von der heute noch in Japan berühmten Dragqueen Peter dargestellt, ist im Kontext des Filmes aber eher, was wir heute eine trans Frau nennen würden, die allerdings die damalige Selbstbezeichnung gay boy verwendet. Eine Bezeichnung, die für alle interviewten Beteiligten etwas leicht anderes zu bedeuten scheint.

Masken und Spiegelbilder machen passenderweise wiederkehrende Motive im Film aus, doch nicht nur der Geschlechtsausdruck der rivalisierenden Nachtclub-Damen wird kommentiert. Parallel zu deren Handlung dreht der Revoluzzer-Regisseur Guevara (Toyosaburo Uchiyama) mit angeklebtem Bart (!) einen Film im Film, dessen Dreharbeiten sich mit den echten Arbeiten an Funeral Parade of Roses überschneiden. Gleichzeitig fängt Filmemacher Matsumoto die linken Aktivisten der japanischen Studentenbewegung der 60er ein, die eng mit der Filmbewegung verbunden war. Selbst jene Regisseure, die sich nicht de facto dazuzählten, setzten sich zumindest mit ihr auseinander.

Wo sind die Parallelen zu Kubricks Uhrwerk Orange zu sehen?

Neben naheliegenden Parallelen bezüglich Drogenkonsum und Gewalt sind die mutmaßlichen Einflüsse auf die kontroverse Literaturverfilmung Uhrwerk Orange vor allem in Zeitraffer-Szenen und der Musik zu finden. So erinnern gleich mehrere vorgespulte Sexeinlagen aus Pfahl in meinem Fleisch an den ikonischen Wilhelm-Tell-Ouvertüre-Dreier von Alex DeLarge (Malcolm McDowell) und seinen flüchtigen Bekanntschaften bei Kubrick.

Beide Filme pendeln zudem zwischen experimentellem Kino, subversivem Klamauk und unverblümtem Melodram. Da rangeln Eddie und Leda in einer Szene noch mit Cowboy-Hüten und Manga-Sprechblasen über ihren Köpfen in der Bar, und einige Minuten später wird der Film zu einer blutigen Nachstellung von Oedipus Rex, inklusive Inzest und ausgestochenen Augen.

Dieser filmische Drogentrip, der gleichzeitig als halbdokumentarische Zeitkapsel ins queere Japan vergangener Zeiten herhält, scheint nicht nur bei Kubrick gut angekommen zu sein. Auf Rotten Tomatoes  hat der Film einen unglaublichen Tomatometer-Score von 100 Prozent, das Popcornmeter liegt immerhin bei 85 Prozent. Und auch bei Moviepilot kann sich die Community-Wertung von 7,5 für so einen exzentrischen Schwarz-Weiß-Film sehen lassen.

Für mich persönlich ist der Film eine klare 10/10. Sein Exzess an kreativem Kokolores und schillernden Identitäten wird nur noch von der Schönheit der queeren Shinjuku-Parallelwelt in Schwarzweiß-Bildern übertroffen. Vor allem Peter glänzt darin als absoluter Szene-Superstar, in den sich nicht nur die Kamera ab der ersten Einstellung verliebt. Noch viel schöner aber ist die Gewissheit, dass selbst in konservativen Ländern wie Japan schon immer auch aufmüpferische Kunst aus den versteckten Ecken kam.

Schaut hier den Trailer zu Funeral Parade of Roses:

Funeral Parade Of Roses 1969 - Trailer (English)
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Noch mehr queeres Japan:

Kann man Pfahl in meinem Fleisch irgendwo streamen?

Ja! Wenn ihr nun auch das Jubiläum dieses japanischen Meisterwerks feiern wollt, das am 13. September dieses Jahres 55 Jahre alt wurde, könnt ihr das bei Amazon und Apple TV tun. Der Film liegt dort in der japanischen Originalversion mit deutschen Untertiteln als Leih- und Kauftitel vor – und zwar unter dem internationalen Titel Funeral Parade of Roses. Die hiesige DVD erschien unter dem selben Namen bei Rapid Eye Movies.

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