Herzlichen Glückwunsch, liebes Marvel Cinematic Universe. Endlich hast du herausgefunden, was eine Serie wirklich ausmacht. Vor allem sollten wir aber dem Kreativ-Team hinter Daredevil: Born Again danken, das uns mit dem Abschluss der ersten Staffel bei Disney+ einen Meilenstein der Marvel-Serien-Geschichte auftischt. Episode 9 schockiert nicht nur mit dem härtesten MCU-Moment aller Zeiten. Sie ignoriert auch alles, was die meisten Marvel-Finale falsch machen.
Daredevil Born Again Folge 9 ist endlich mal ein richtig gutes Marvel-Finale
Als Serienjunkie, der im Jahr Hunderte neuer Staffeln konsumiert, befürchte ich bei jeder MCU-Neuheit eine weitere Mogelpackung. Die meisten Vertreter der neuen Marvel-Ära bei Disney+ sind im Prinzip nur in Kapitel aufgeteilte Filme, die Strukturen und Erzählweisen klassischer Serien ignorieren. Daredevil: Born Again ist eine von wenigen MCU-Serien, die ihr eigenes Medium wirklich auszunutzen wissen – und das Staffelfinale ist das beste Beispiel dafür.
Was mich in den letzten Jahren zunehmend genervt hat, ist ein nicht zu verachtendes Problem, an dem so gut wie alle MCU-Serien kranken – mit Ausnahme von Loki und Agatha All Along. Und zwar das ungeschriebene Gesetz, dass Finale einen epischen Bossfight, massig CGI, neue Superhelden-Kostüme und natürlich Teaser für weitere Marvel-Projekte beinhalten müssen. Daredevil: Born Again zeigt aber kein Interesse daran.
Es ist ein seltenes und erfrischendes Gefühl, dass der Abschluss einer Marvel-Serie ausnahmsweise nicht den Story-Ball einem anderen zukünftigen MCU-Projekt zuspielt, sondern einzig und allein an der eigenen Geschichte interessiert ist – und sich wie ein richtiges Staffelfinale einer weiterlaufenden Serie anfühlt.
Nicht nur vollendet Folge 9 die "Wiedergeburt" von Daredevil (Charlie Cox) und Kingpin (Vincent D'Onofrio) und peitscht sich zu einem dramatischen Höhepunkt aller vorangegangenen Storylines auf. Auch kulminiert die Staffel in einem epischen Cliffhanger, der mich direkt nach der nächsten Season schreien lässt. Nach viel zu vielen in sich geschlossenen Miniserien der neuen Disney+-Ära, habe ich erstmals das Gefühl, dass Marvel endlich gelernt hat, dass langfristig konzipierte Erzählungen, bei denen wir liebgewonnene Figuren über Jahre hinweg begleiten können, 6-teilige Miniblockbuster fast immer übertrumpfen.
Achtung, es folgen Spoiler zum Daredevil: Born Again-Finale!
Daredevil: Born Again erschafft mit einem Moment ein Finale für die Ewigkeit
Das Finale der ersten Staffel von Daredevil: Born Again hatte überraschend viele Highlight-Momente zu bieten, die mir vor allem als Fan der früheren Defenders-Ära bei Netflix Gänsehaut bereiteten – von Karens "Adrenalin"-Herzschlag und Frank Castles (Jon Bernthal) blutgetränkten Fights bis hin zu Foggys "Avocados at Law"-Etui. Wenn ein Auto heranfährt, die Titelmusik der ersten Daredevil-Serie anklingt und schließlich Karen Page (Deborah Ann Woll) ihren Freunden Matt und Frank gegenübersteht, überwältigt mich Born Again mit einer Nostalgie-Welle, die ich seit den ersten 15 Minuten der Staffel schmerzlichst vermisst habe.
Nachdem ein gewaltiger Blackout zu Killing Me Softly New York City ins Chaos stürzt, folgt schließlich ein besonderer Moment, der Folge 9 in ein absolut denkwürdiges Staffelfinale verwandelt und sich auf ewig in meine Erinnerung einbrennt: Wilson Fisks endgültige Rückverwandlung in den Kingpin, die nicht nur an seinem von Folge zu Folge expandierenden Schultern zu erkennen ist.
Wilson Fisks über knapp neun Episoden aufgestaute Wut und Aggression entlädt sich in einem hammerharten Gewaltakt, der mit seiner expliziten Darstellung alles übertrifft, was wir im MCU je gesehen haben. Wenn er mit bloßen Händen den Kopf von Commissioner Gallo (Michael Gaston) zum Platzen bringt, zerschmettert er nicht nur sinnbildlich die Vernunft und das Gesetz, sondern auch jegliche Erwartungshaltung, wie brutal eine Comic-Adaption sein kann.
Politisches Manövrieren und Intrigieren weichen der rohen, blutigen Gewalt. In dem Moment, als der Kingpin diese Grenze überschreitet, ist er kein Mensch mehr, sondern ein wahrhaftiger Comic-Bösewicht. Kraftvoller und furchteinflößender wurde die Vollendung einer Superschurken-Evolution selten in Szene gesetzt.
Daredevil Staffel 2 muss jetzt so schnell wie möglich kommen
Weniger schockierend, aber genauso dramaturgisch pointiert ist auch Matt Murdocks Ansprache im Finale. Im Verlauf der Staffel staute sich ein Frust über das kaputte System auf, der seine Vigilanten-Persona schließlich wieder hervorkitzelt. Weitaus stärker ist aber die Erkenntnis, dass Daredevil allein nicht genug ist, um New York City vor dem Kingpin zu retten. Es braucht eine ganze Stadt voller einfacher Menschen, die den Mut haben, sich gegen das Unrecht aufzulehnen: "Wir sind die Stadt ohne Furcht!"
Nach diesem packenden Staffelfinale erzeugt allein der Gedanke an Staffel 2 Gänsehaut. Der Kingpin stürzt New York direkt in ein grausames Regime, in dem Polizisten jeden Menschen auf offener Straße angreifen dürfen, Dissidenten in Käfige gesperrt werden und Vigilanten – und damit jegliche Form des Widerstands – verboten ist. Die Suche nach Held:innen, die sich dem Teufel aus Hell's Kitchen im Kampf gegen das Unrecht anschließen, gibt jetzt schon eine spannende neue Richtung für die Serie vor.
Nach mehreren Folgen des Neuanfangs besinnt sich Daredevil: Born Again schlussendlich mit seinem Staffelfinale wieder zurück auf die Stärken der einst eingestampften Defenders-Saga – und die Stärke serieller Erzählungen. Ich möchte nicht in Ungewissheit leben, ob und wann liebgewonnene Charaktere und Story-Versprechen in anderen Projekten wieder aufgegriffen werden, sondern mich einfach nach einem knalligen Finale auf die nächste Staffel meiner Lieblingsserie freuen. Dabei bleibt vor allem eine Erkenntnis: Marvel sollte endlich wieder richtige Serien produzieren. Danke dafür, Daredevil!