Ihr Gesicht thront über der Kamera, eingetaucht in schummriges, rotes Licht. Es ist die Teenagerin Marielle, die da wie eine Sphinx herabschaut, auf uns oder auf ihre beiden Eltern. Das Bild unterbricht wiederholt das Treiben in der schwarzen Komödie Was Marielle weiß von Autor und Regisseur Frédéric Hambalek, die bei der 75. Berlinale im Wettbewerb um den Goldenen Bären läuft.
Beim vormittäglichen Presse-Screening rüttelte der beißende Blick auf bürgerliche Erziehungsideale die versammelte Kritikerschaft auf. Und bei irgendeinem Networking-Event im Umfeld des Festivals denkt wahrscheinlich gerade in diesem Moment ein angeschwipster Produzent über ein englischsprachiges Remake nach. So clever und universell verständlich ist das Konzept von Was Marielle weiß.
In Was Marielle weiß sieht eine Tochter alles (!), was die Eltern tun
Die Grundidee könnte von Ruben Östlund stammen, wenn auch die Ausführung beim Regisseur von Triangle of Sadness und The Square vermutlich noch ein Stück fieser ausgesehen hätte. Nach einer Ohrfeige durch ihre (ehemals) beste Freundin kann Marielle (Laeni Geiseler) sehen und hören, was ihre Eltern gerade machen, egal wie weit weg sie sind.
Mutti Julia (Julia Jentsch) flirtet bei einer Raucherpause mit ihrem Kollegen? Marielle weiß es. Papa Tobias (Felix Kramer) wird bei einem Meeting in seinem Verlag vor versammelter Mannschaft erniedrigt und tut zu Hause so, als hätte er sich durchgesetzt? Auch hier kennt Marielle die Wahrheit. Als das Mädchen die Eltern mit ihrem neuen "Einfühlungsvermögen" konfrontiert, rutscht der Haussegen in Schieflage. Das minimalistisch eingerichtete Eigenheim, das wie der Monolith aus 2001: Odyssee im Weltraum auf die Nachbarschaft blickt, entpuppt sich als Lügengebäude.
Die Eltern wollen es erst nicht glauben, entwickeln aber schnell ihre eigenen Strategien, um mit der ungewöhnlichen Begabung ihrer Tochter zurechtzukommen. Das klingt harmlos, wenn beide im gemeinsamen Krisenmeeting Französisch sprechen, um ihre allsehende Tochter auszutricksen. Schnell macht sich jedoch die manipulative und heuchlerische Seite der beiden Erziehungsberechtigten bemerkbar. Sie zerbrechen sich den Kopf darüber, was Marielle weiß, und verlieren nur wenige Gedanken daran, was Marielle denkt. Wie verarbeitet das Mädchen eigentlich, dass ihre Eltern – um es eloquent auszudrücken – komplett austicken?
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Ruben Östlund trifft Das perfekte Geheimnis
Zunächst performen Julia und Tobias noch für ihre Tochter, um bloß nicht im falschen Licht dazustehen. Die guten Vorsätze halten allerdings nicht lange an. Papa nutzt Marielle als Überwachungsmedium. Demgegenüber braucht Mama sie, um Unzufriedenheit und Sehnsüchte ans Licht zu bringen, die sie ihrem Mann sonst nicht ins Gesicht sagen würde. Marielles Wissenszuwachs treibt drastische Blüten, die man keinem Kind außerhalb einer Satire oder eines Horrorfilms zumuten würde. Da bleibt das Lachen fast im Halse stecken.
So hart springen die Eltern teilweise mit Marielle um und so abstoßend ist ihr Egozentrismus, dass die bürgerliche Satire eine willkommene Abwechslung zu den publikumswirksamen Ensemble-Komödien anbietet, die sich sonst mit leidlich unkorrektem Gewitzel auf dem Themengebiet herumschleichen. Man denke an die pikierten Star-Gesichter aus Der Vorname und seinen Fortsetzungen sowie natürlich Das perfekte Geheimnis. Nicht dass Julia Jentsch keine bekannte Filmschauspielerin wäre, aber ihre Figur wäre in einem schlechteren Film und in den Händen einer weniger fähigen Schauspielerin das reinste Hassobjekt.
Andererseits fehlt dem Berlinale-Film die letzte Konsequenz eines Ruben Östlund. Der schwedische Regisseur macht sich ebenfalls eine Freude daraus, seine Bildungsbürgerfiguren in unbequeme Positionen zu schieben und zuzuschauen, wie sie sich winden – am liebsten bis zum Abspann. Im Gegensatz dazu wird im Drehbuch von Was Marielle weiß nach einem Weg zur Versöhnung gesucht. Da aber die eigentlich zentrale Figur, nämlich Marielle, über weite Strecken vernachlässigt wird, wirken die Bemühungen etwas unglaubwürdig. Fast so wie wenn Mutti dem Kollegen versichert, dass sie ganz sicher nicht raucht. Marielle kennt die Wahrheit und wir auch.
Was Marielle weiß wurde im Wettbewerb bei der Berlinale gezeigt. Der Film kommt am 17. April 2025 in die deutschen Kinos.