Die qualitative Dichte beim diesjährigen Festival Cannes lässt sich wohl auch daran messen, wie unsicher im Vorfeld die potenziellen Gewinnerfilme waren. Die einen setzten auf Le Havre, damit Aki Kaurismäki endlich mal eine Goldene Palme sein eigen nennen darf. Andere wetteten auf den Publikumsliebling The Artist. Doch am Ende wurde mit The Tree of Life der vielleicht umstrittenste Film des 64. Filmfestivals in Cannes gewählt. All jene, die darauf hofften, Regisseur Terrence Malick endlich mal in echt auf der Bühne zu sehen, wurden allerdings enttäuscht. Die Goldene Palme wurde von den Produzenten des Films abgeholt.
Als erwartet und trotzdem überraschend fasst Anke Westphal die Entscheidung für The Tree of Life zusammen: “Schließlich gilt Robert De Niro nicht gerade als avantgardistischer Jury-Präsident; bei ihm könne jeder Wettbewerbsfilm die Goldene Palme gewinnen, hörte man während des Festivals immer wieder. Es gewann indes der extremste und umstrittenste Film: eine zweieinhalbstündige Kosmologie, in die das Drama einer Familie so eingewoben ist, dass sich Seinsfragen im All-Zusammenhang stellen. Es ist eine Art sinfonisches Werk.”
Für den größten Skandal beim Festival in Cannes hatte bekanntlich Lars von Trier gesorgt, der zur Persona non grata erklärt wurde. Sein neues Werk Melancholia wurde trotzdem ausgezeichnet, denn der Preis für die beste Darstellerin ging an Kirsten Dunst, die ihrem abwesenden Regisseur auf der Bühne dann auch artig dankte. Als bester Darsteller wurde der Franzose Jean Dujardin (OSS 117 – Der Spion, der sich liebte) prämiert, der mit seiner charismatischen Leistung im modernen Stummfilm The Artist die Zuschauer und Kritiker an der Croisette begeistert hatte.
Ob Luc Dardenne und Jean-Pierre Dardenne mit Der Junge mit dem Fahrrad ihre dritte Goldene Palme gewinnen würden, wurde im Vorfeld spekuliert. Doch am Ende musste sich das belgische Regie-Duo “nur” mit dem Großen Preis der Jury zufrieden geben, den sie mit Once Upon a Time in Anatolia von Nuri Bilge Ceylan teilten. Doch insgesamt belohnte die Jury um Robert De Niro und Uma Thurman dieses Jahr erstaunlich viele Filme, die wir eher als das Gegenteil der realistischen Dardenne-Dramen betrachten können. Zu dem Stummfilm, dem Weltuntergangsdrama und dem philosophischen Traktat samt Dinosaurier gesellte sich als weiterer Gewinnerfilm Nicolas Winding Refn mit seinem Neo-Noir Drive. Die Romanverfilmung mit Ryan Gosling und Carey Mulligan wurde mit dem Regiepreis ausgezeichnet.
Über einen deutschen Preisträger können wir uns aber auch freuen. Das Krebsdrama Halt auf freier Strecke von Andreas Dresen wurde zusammen mit dem kryptischen Arirang von Ki-duk Kim mit dem Preis der wichtigen Nebenkategorie Un Certain Regard ausgezeichnet.
Die Gewinner beim 64. Filmfestival in Cannes:
Palme d’Or: Terrence Malick – The Tree of Life
Grand Prix: Gebrüder Dardenne – Der Junge mit dem Fahrrad & Nuri Bilge Ceylan – Once Upon a Time in Anatolia
Beste Regie: Nicolas Winding Refn – Drive
Bester Schauspieler: Jean Dujardin – The Artist
Beste Schauspielerin: Kirsten Dunst – Melancholia
Bestes Drehbuch: Joseph Cedar – Footnote
Jury Preis: Maïwenn Le Besco – Poliezei
Camera d’Or: Pablo Giorgelli – Las Acacias
Kurzfilm-Palme d’Or: Maryna Vroda – Cross-Country
Einen Überblick zu den Reaktionen zum Filmfestival Cannes gibt es auf film-zeit.de.