Chloe.Price - Kommentare

Alle Kommentare von Chloe.Price

  • 7
    Chloe.Price 13.04.2024, 13:40 Geändert 13.04.2024, 20:24

    EPISODE 6: “GGANBU”

    (SPOILER-WARNUNG FÜR DIE GANZE SERIE, AUCH WENN NUR EINE EPISODE ANALYSIERT WIRD)

    Eigentlich hatte ich mir nicht vorgenommen, meine Meinung über SQUID GAME zu äußern. Auch wenn ich gut unterhalten wurde und besonders den Spannungsaufbau und die cleveren Storytelling-Twists im Laufe der Serie wertgeschätzt habe, habe ich es nicht als notwendig empfunden, einen Kommentar zu verfassen, da ich es nicht als dieses Meisterwerk gesehen habe wie manch andere. Doch dann kam Episode 6. Auch wenn das letzte Drittel der Serie von der Qualität etwas abfällt und mit den plakativen Klischee-Reichen dann völlig in Fremdschäm-Territorium abdriftet, so bleibt diese Folge für mich unangetastet und rechtfertigt meiner Meinung nach, der Serie eine Chance zu geben, egal ob man die am Ende mag oder nicht.

    Auch wenn ich verstehen würde, dass sich hier die Meinungen scheiden könnten, z.B. dass die Episode zu melodramatisch inszeniert oder erzählt ist, so bin ich der festen Überzeugung, dass die Episode eine gute Balance findet im Vergleich zu manch anderen Werken, die mit einer geladener Pathos-Pistole an unserer Schläfe die Emotionen aus uns herauskitzeln wollen (hallo, “The Green Mile”). Statt dass der dramatische Höhepunkt und der emotionale Twist für den Schluss aufgehoben wird, wird uns schon im ersten Drittel der Folge offenbart, dass die Zweierteams in der nächsten Herausforderung, dem Murmelspiel, nicht kooperieren, sondern gegeneinander antreten werden. Während die letzten Spiele noch mit der Möglichkeit Spannung generiert haben, dass es die Hauptcharaktere am Ende nicht überstehen werden, wird uns hier relativ früh bewusst, dass es diesmal absolut unausweichlich ist. Wenn uns die letzten fünf Episoden eines beigebracht haben, dann dass es keine Schlupflöcher gibt, wenn man ein Spiel verliert, was nur umso mehr zementiert, dass wir uns am Ende von vielen verabschieden werden. Da sind wir in dieser Position schon fast wie Ali, als er Sang-woos Worten Glauben schenkt, dass es eine Möglichkeit gibt, diesem Schicksal zu entkommen, obwohl wir es besser wissen sollten. Und dieses Wissen plagt uns dann für den Rest der Episode, wenn wir mit ansehen müssen, wie die Charaktere schon fast in Real Time mit dieser Möglichkeit auf ihre eigene Weise umgehen bevor die Zeit abläuft, in einer Seherfahrung, die ich als emotionalen Aushöhlungsprozess beschreiben würde. Nicht in dem Sinne, dass ich ununterbrochen Tränen vergossen hätte, sondern sich Stück für Stück eine Leere in mir ausgebreitet hat.

    Mag diese Episode im Vergleich zu den anderen Spielen noch relativ zahm wirken, da der Gewaltgrad und Schockfaktor auf ein Minimum gehalten wird, so wirkt sie auf den Zuschauer wesentlich brutaler, wenn wir schon fast die Minuten zählen, bis wir endlich von dieser Zwangsjacke in Form des nahenden Unheils befreit werden. Man hofft schon fast, dass man irgendwann wieder zu dem Handlungsbogen des Undercover-Polizisten schneidet, nur um sich für ein paar Minuten von der Spannung zu erholen, doch bleiben wir wie die Charaktere in diesem Raum gefangen und warten auf das Unvermeidliche. Doch sind es nicht unbedingt die kommenden Verluste, die den dramatischen Rückgrat dieser Episode ausmachen, sondern wie dieser ausweglose Umstand die hässlichen Seiten in uns Menschen hervorbringt, indem mit jeder Minute die moralische Fassade von fast jedem Charakter wegfällt, sogar die unseres Protagonisten Gi-hun. Nimmt er noch am Anfang der Episode in einem Akt der Selbstlosigkeit den alten Mann Oh Il-Nam als seinen Partner, nutzt er bald dessen Demenz aus, um das Murmelspiel zu gewinnen, als es für ihn schlecht aussieht. Das mag zwar nach Feel Bad aus dem Handbuch klingen, jedoch relativiert das meiner Meinung der letzte Akt der Episode, wo ein Stück Storytelling, das auf den Zuschauer als emotionale Manipulation gedeutet werden kann, als ein in-universe Trick von einem der Charaktere offenbart wird, als Il-Nam enthüllt, dass er nur dement gespielt hat, um zu prüfen, ob Gi-hun wie alle anderen zu Manipulation, Betrug und Täuschung greifen wird, um seine eigene Haut zu retten. Im Kontext mit dem Twist im Finale gibt das dieser Wendung sogar einen doppelten Boden.

    Ein weiser Zug von den Autoren war es, all die Misere mit dem schwarzen Humor von Jang Deok-sus Charakter etwas auszubalancieren, als ihm bewusst wird, dass rohe Gewalt und Stärke ihn bei diesem Murmelspiel nicht voranbringen werden. So eindimensional sein Charakter auch sein mag, verhindert seine Existenz zumindest, dass sich die Episode nicht zu eintönig anfühlt. Doch während der Klischee-Schurke im Hintergrund bleibt, entspringt ein neuer, wesentlich effektiver Antagonist subtil in den Vordergrund. Mag Sang-woo im Laufe der Serie schon manche moralisch fragwürdige Entscheidungen getroffen haben, so waren wir doch froh, dass er dem Team mit seinem hohen Intellekt genug ausgeholfen hat, was uns dann davon abhielt, ihn weiter zu hinterfragen. Doch als die Karten schlecht für ihn stehen, bekommen wir seine wahre Natur zu sehen. Für eine kurze Weile zerfällt die professionelle Doktor-Fassade, als er jähzornig Ali des Betrugs beschuldigt, bevor er sich wieder beruhigt und die naive, gutmütige Art seines Partners ausnutzt, um zu gewinnen. So plakativ es auch klingen mag, dass unschuldige Charaktere ins Gras beißen müssen, um eine emotionale Reaktion im Zuschauer zu wecken, funktioniert es hier im Kontext der kapitalistischen Botschaft der Serie, in dem Sinne, dass Güte und Vertrauen einen nicht auf die Spitze bringen werden, und man sich die Hände dafür schmutzig machen muss. Dementsprechend ist es nur konsequent, dass hier dann die Charaktere darunter leiden müssen, die ihre Menschlichkeit bewahren, statt dass ihre Rolle nur auf einen dramatischen Tod reduziert wird. Hinzu kommt, dass die Tode offscreen oder unscharf im Hintergrund geschehen, was beweist, dass diese Serie sich trotz all der Grausamkeiten der Grenze der Geschmacklosigkeit bewusst ist. Schon allein, dass die Episode uns die Perspektive des Ehepaars vorenthält, was gefundenes Fressen für in your face Tragik wäre, bringt das Melodrama-Argument etwas ins Schwanken.

    Doch es ist nicht alles Trauer und Regenwolken, wenn wir zu der Perspektive von Sae-byeok schneiden, die ihre womöglich letzten Minuten nicht ausnutzt, um sich eine Strategie beim Murmelspiel auszudenken, sondern sich endlich ihrer Partnerin Ji-yeong öffnet, obwohl sie so lange versucht hat, sie von sich wegzuschieben, wie so viele andere Menschen in ihrem Leben. Ich schätze, wie sachlich sie bei der Diskussion bleiben, ohne dass sie völlig uncharakteristisch in Tränen und Reue über ihre Vergangenheit erzählen. Lediglich auf die beiden Anmerkungen, dass sie es am Ende nicht beide hier raus schaffen werden, hätte ich verzichten können. Einmal ist noch okay, aber beim zweiten Mal denkt man sich “Gott, wir haben es schon kapiert!”. Während alle anderen Perspektiven in dieser Episode auf Betrug und Manipulation auslaufen, ist es doch poetisch, dass die vielleicht kühlste Hauptcharakter-Dynamik der Serie einen positiven Abschluss bekommt, als Ji-yeong absichtlich verliert, da sie im Vergleich zu Sae-byeok niemanden hat, der sie draußen benötigt. Während bei diesem Spiel die Tücke und der Egoismus der Hauptcharaktere zum Vorschein kommt, wird letzterer ein Moment gewährt, der sie humanisiert, als sie ihre kühle Fassade bezüglich dieser Entscheidung endlich mal fallen lässt. Somit endet die Episode nicht auf einer komplett nihilistischen Note, da sie hier veranschaulicht, dass selbst in einer ausweglosen Situation noch ein Funken Menschlichkeit gefunden werden kann.

    Natürlich ist es immer schwer, solch eine Episode angebracht umzusetzen. Wo ist die Grenze zwischen Verharmlosung und plakativer Ausbeute? Für meinen Teil meistert SQUID GAME hier den Spagat, auch auf auditiver Ebene. Musik kann sowohl Fluch und Segen sein, wenn es um die Kommunikation von Emotionen geht. Wenn man sie zu dick aufträgt, kann sie vergleichbar mit einem Laugh Track in einer Sitcom sein, wo einem eingetrichtert wird, wie man wo reagieren soll. Tatsächlich kann Stille äußerst effektiv sein und da fallen mir viele positive Beispiele aus anderen Serien oder Filmen ein, aber die Idee, dass man komplett auf musikalische Untermalung verzichten sollte, ist dann doch etwas prätentiös. Das traurige Leitmotiv dieser Episode hält sich meines Erachtens genug im Hintergrund, um nicht negativ aufzufallen. Generell balanciert die Episode das geschickt mit ruhigen Momenten aus und hin und wieder bekommt man die klassische Challenge-Musik zu hören, womit auch hier Eintönigkeit vermieden wird. Und selbst wenn mal die traurigen Töne zum Vorschein kommen, steigert sich die Melodie kaum und fühlt sich auf musikalischer Ebene wie ein nie enden wollender Loop an, der mit dem Verzicht auf Abwechslung im Tempo die Ausweglosigkeit der Situation nur weiter unterstreicht und einem ein Gefühl von “Flatlining” gibt. Natürlich gibt es subtilere Beispiele da draußen, aber manchmal gebe ich mich mit dem Mittelweg zufrieden, wenn er gut umgesetzt wird.

    Auch wenn die Serie in keiner anderen Folge diese Höhen erreicht, so war es mir doch wichtig, sie in dieser Analyse festzuhalten. Denn wenn diese Episode eines einfängt, dann die Essenz unserer Wurzeln als menschliche Spezies, wenn sie in die Ecke gedrängt wird und sich obendrein nicht auf Gewalt verlassen kann, um der Situation zu entfliehen. Manchmal können unsere tiefsten Gedanken viel gefährlicher sein als eine geballte Faust, so sehr wir außen einen auf moralisch korrekt machen. Mögen wir auch die Entscheidungen mancher Charaktere in dieser Episode hassen, sollten wir uns die Frage stellen, wie wir in einer solchen Situation reagieren würden. Wie viel Wert legt man noch auf Kameradschaft, wenn das eigene Leben auf Messers Schneide steht? Doch trotz alledem verurteilt die Episode nicht völlig diesen selbstsüchtigen Drang zum Überleben, als der alte Mann Il-Nam Gi-hun trotz seines Betrugs vergibt, als hätte er volles Verständnis dafür, dass das Teil zum Menschsein gehört. Wir müssen uns damit abfinden, dass unser Moralkodex nicht immer unsere wahre Natur reflektiert und auf dieser Ebene gleichen wir uns fast alle, genauso wie in den Spielen alle Teilnehmer als ebenbürtig oder ebenso wertlos gesehen werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir uns ein solch hoffnungsloses Weltbild aneignen sollten, was durch ein Schlüsselmoment im Finale als Antithese kommuniziert wird. SQUID GAME mag zwar in Sachen Kapitalismus-Kritik nicht das Rad neu erfinden, ehrlich gesagt, bestätigen die nächsten Episoden nur, dass sie eine ziemlich oberflächliche Sicht davon hat, aber was das Einfangen solcher menschlicher Urinstinkte angeht und wie sie uns als Person definieren, gebe ich einen Daumen hoch. Zwar bin ich etwas skeptisch, was die kommende zweite Staffel dem noch hinzufügen soll, aber ich lasse mich gerne überraschen.

    4
    • 7

      Eine Frage, die sich jeder Künstler beim Schaffen eines Bildes stellen sollte, ist, welche Informationen er den Augen des Betrachters mitteilen und vorenthalten will. Dieselbe Herangehensweise lässt sich auch beim Film anwenden, wenn man jede Aufnahme wie ein Gemälde aufbaut und mit präzisem Blocking die gezeigten Elemente auf eine Weise platziert, die die erwünschte Reaktion beim Zuschauer weckt. Mit THE ZONE OF INTEREST legt Jonathan Glazer eine Schippe drauf, indem er diese Herangehensweise auch beim Ton anwendet, der eine ganz andere Geschichte erzählt, als das, was das menschliche Auge registriert. Hier trifft Kino auf Kopfkino, wenn ein scharfer Kontrast zwischen dem friedlichen Garten einer wohlhabenden, deutschen Familie und den Geräuschen aus dem gegenüberliegenden Konzentrationslager aufgebaut wird, der mithilfe einer Mauer den blanken Horror vor den Augen der Familienmitglieder und dem Zuschauer abschirmt. Mögen im Vordergrund die banalsten Alltagsbeschäftigungen vollzogen werden, so spüren wir dauerhaft die Dissonanz mit dem zweiten Film, der unserer eigenen Fantasie überlassen wird statt auf plakative Weise den Schockfaktor mit expliziten Aufnahmen von den Geschehnissen aus dem Hintergrund zu erhöhen.

      Dieser Film ist ein ziemliches Musterbeispiel, wie unwichtig Plot und Charaktere im Großen und Ganzen sein können, wenn die Inszenierung für sich allein spricht. So friedlich das Familienleben der Kommandanten Rudolf Höß auch sein mag, erlaubt sich der Film nie, die intime Wärme dieser Momente einzufangen, indem er mit einer fast schon dokumentarischen Inszenierung alle Ereignisse in Totalen oder Halbtotalen einfängt. Die gähnende Leere könnte schon fast den Elefanten im Raum füllen, der den versteckten Genozid hinter den Mauern repräsentiert. Es ist, als wäre sich der Film bewusst, dass das, was uns präsentiert wird, nicht von Belang ist. Das Gesprochene hat weniger zu sagen als das immer präsente Dröhnen, das sich durch den gesamten Film zieht. Das menschliche Gesicht, der stärkste Identifikationsfaktor sowie die Fleisch gewordene Seelenlandschaft eines Schauspielers, wird auf Abstand gehalten. Es ist ausschlaggebend, dass die einzige Ausnahme der Regel in der Form von einem Offizier kommt, der uns zum ersten und einzigen Mal einen inszenatorischen Fremdkörper gewährt, wenn wir aus seiner Perspektive das Innenleben von Auschwitz wahrnehmen. Für eine Weile stehen die Hintergrundgeräusche ungedämpft im Vordergrund und mit der Nahen auf seinem Gesicht kommuniziert der Film dem Zuschauer, dass für einen kurzen Moment die Fassade eingerissen wurde, die uns so lange vorgehalten wurde, ohne dass wir überhaupt irgendwas zu sehen bekommen außer den weißen Rauch, der den Mann umgibt. Es wirkt schon fast hoffnungsvoll, wenn dann in später Nacht die Mutter von Hedwig in einer Halbnahen gefilmt wird, als sie vom orangenen Schein aus dem Fenster nicht mehr den Horror aus der Nachbarschaft ignorieren kann und kurz danach offscreen abreist.

      Es ist nur bedauerlich, dass Jonathan Glazer diese kreative Entscheidung dann nicht ganz zu Ende denkt. Zwar bekommen wir auf narrativer Ebene einen passenden Zirkelschluss, indem durch einen Zeitsprung kommuniziert wird, dass die Opfer von Auschwitz bis zum heutigen Tage in Erinnerung behalten werden, während der Kommandant Höß in der letzten Szene trotz seines hohen Standes völlig isoliert mit der Dunkelheit verschmilzt und sinnbildlich die Treppen hinunter steigt, was aber auf inszenatorischer Ebene doch etwas zu ordinär ist, vor allem wenn man bedenkt, dass der Plot bis dahin größtenteils nebensächlich behandelt wurde. Nachdem Glazer zuvor noch mit einigen kreativen Geistesblitzen gestrahlt hat, sei es zum Beispiel Humanität & Empathie mit dem Einsatz von Negativfilm zu kommunizieren, so hätte ein passender, audiovisueller Schlussstrich zu diesem inszenatorischen Essay das Gesamtbild abgerundet. Nichtsdestotrotz ist ihm ein Experiment geglückt, das das volle Ausmaß des Mediums Film ausnutzt und gewährt unseren Augen und Ohren eine ganz neue Erfahrung, indem er unsere Sinneseindrücke auf eine dialektische Reise schickt, wie man sie nicht allzu oft im Kino erlebt hat.

      3
      • 7

        DUNE PART TWO weckt wieder Erinnerungen an eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, als würden die Welten zwischen mir und der Leinwand miteinander verschwimmen. Nicht allzu oft habe ich in den letzten Jahren eine solche Form der Immersion in einem Fantasy-Blockbuster im Kino verspürt. Wir bekamen Aliens, Superhelden, Dinosaurier und weitere übernatürliche Konzepte aufgetischt, doch schafft es ein Film mit bergeweise Sand und Fünzig Meter-Würmern die Grenze zwischen Zuschauer und Bildschirm zu überwinden und uns wortwörtlich in die Schuhe von Paul Atreides zu stecken, wenn wir aus seiner Perspektive den Shai-Hulud durch das Dünenparadies reiten und den heißen Sand auf unserer Haut spüren, der uns entgegen fliegt.
        War ich noch mit Villeneuves Einsteiger in die Welt, die Frank Herbert in seinen Büchern erschaffen hat, einigermaßen zufrieden gestellt, so ließ er auch viel Potenzial liegen, indem er vielen Charakteren und Handlungsbögen die nötige Zeit und Tiefe verweigerte, um den Zuschauer erst mit den Regeln der Welt und ihrer Politik vertraut zu machen. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Materie erst als unverfilmbar galt, da man nicht umhin kommt, die ersten Schritte in dieser neuen Welt in eine Lehrstunde zu verwandeln.

        Und jetzt wo der zweite Film rausgekommen ist, der die weniger plotfokussierte Hälfte des Romans deckt, möchte man meinen, dass es dem Endergebnis schaden möge, aber tatsächlich ist es ein Segen. Haben wir uns im ersten Film erst mit den Regeln vertraut gemacht, wird uns jetzt erlaubt, den Wüstenplaneten Arrakis hautnah mitzuerleben.
        Für einen großen Teil der Laufzeit verbringen wir Zeit mit den Fremen, machen uns wie Paul mit ihren Gebräuchen vertraut und bekommen ein gutes Gefühl von einer Umgebung, die genau genommen ziemlich eintönig und leblos sein sollte. Villeneuve befreit sich der Ketten, die im ersten Film auf ihn gelegt wurden und wagt sich in experimentelle Gewässer, wenn er den expandierenden Geist des Kwisatz Haderach, Paul Muad’Dib Usul mit den Aufnahmen der Landschaft so natürlich verschmelzen lässt, ohne jegliche Effekthascherei.

        Nirgendwo wird das besser zur Schau gestellt als in einer Vision, wo Paul, eine aufsteigende Messiasfigur, die das Universum mit Tod und Religion zu seinen Knien bringen wird, mit seiner noch ungeborenen Schwester sein Lebenswerk am Ende der Wüste wiederfindet: ein unendlicher Ozean, der die Abermillionen Opfer repräsentiert, die ihr Wasser für seine Zukunft geben werden. Ein strahlend blauer Hoffnungsschimmer, der sich als blutige Erinnerung für kommende Ereignisse enthüllt und uns einen Einblick in das subjektive Zeitempfinden des Protagonisten gewährt. Eine Offenbarung, die dem Publikum nicht ausbuchstabiert wird, sondern darauf vertraut, dass sie die Punkte von alleine miteinander verbinden. Villeneuve verwandelt die Leere der trockenen Landschaften in seinen wortwörtlichen spirituellen Sandkasten, die durch das atmosphärische Sounddesign und Zimmers fulminanter Musik lebendiger wirkt als jeder ach so aufregende Planet von zahlreichen Laufband-Sci Fi-Produktionen.

        Sei es eine Schlacht im Wüstensand oder ein zärtlicher Charaktermoment zwischen zwei Liebespartnern, Villeneuve beweist weiterhin, warum er am liebsten einen Stummfilm drehen würde, der sich ausschließlich auf die Bilder fokussiert. So blendet er während einer Diskussion sinnbildlich die Dialoge aus, um auf die Blicke unseres Protagonisten zu fokussieren, wie er sein Gegenüber wahrnimmt, während die Worte in seinem subjektiven Empfinden sich immer weiter entfernen. Es sind diese kleinen Details, die die Welt so greifbar machen. Selbst wenn Paul dann auf dem Rücken eines gewaltigen Wurms reitet, interessiert sich die Kamera für seine Füße, die nach langem Zittern sich nach und nach stabilisieren, bis er einen festen Stand einnimmt. Und wir fühlen dann die Wucht dieses Moments.

        Jedoch hat der Film da leider ein ähnliches Problem wie der Vorgänger. So gut die Bildkomposition und die Kamera auch sein mögen, wird die Ästhetik dem nicht ganz gerecht. Auch wenn aufgrund der Variation eine leichte Verbesserung besteht, bekommen wir dieselben Sepia-grauen Bilder wie damals präsentiert, ein Look, mit dem ich mich selbst nach fast drei Jahren nicht wirklich angefreundet habe. Noch rätselhafter ist, warum man in den Nachtszenen den Zuschauern das Gefühl geben will, wie es ist, den Film mit drei Sonnenbrillen zu erleben, wo man dann im Heimkino nicht mal die Silhouetten ausmachen kann. Wenn man bedenkt, wie beispiellos die Wüstenlandschaft in “Lawrence von Arabien (1962)” eingefangen wurde, ist es umso bedauerlicher. Zwar erlaubt sich der Film aufgrund der verschiedenen Schauplätze mehr ästhetische Experimente, was sich durch das Licht und die Kostüme schön ergänzt, aber den Gesamteindruck trotzdem nicht ganz rettet.

        Zudem gelingt es Villeneuve auch nicht komplett, den nihilistischen, teils zynischen Biss von Herberts Schreiben einzufangen. Zwar gibt es hier und da Fortschritte nach der deplatziert pathetischen Aufopferung von Jason Momoas Charakter im ersten Teil, was in der Vorlage mit einem antiklimatischen Kopfschuss ausgeführt wurde; jedoch hätte es nicht geschadet, noch tiefer in die dialektische, moralische Geisteslandschaft von Paul Atreides Charakter einzugehen, was durch das Schneiden von zwei Schlüsselfiguren leider nur auf ein gebrochenes Herz und Chalamets grandiosem Schauspiel heruntergebrochen wird. Zumindest zeigt sich in den letzten Minuten ein Verständnis für die Materie, wenn sich trotz des ruhmreichen Sieges ohne große Verluste eine unterschwellige Melancholie im Zuschauer ausbreitet, wenn sich die Kamera von den aufsteigenden Raumschiffen abwendet, die die Macht von Muad’Dib repräsentieren, und dann nur auf die menschlichen Überreste von Paul Atreides in Form von Chani fokussiert, die sich in die ewigen Weiten der Wüste aufmacht, jetzt wo es keinen Platz mehr für sie gibt.

        9
        • 7
          Chloe.Price 18.02.2024, 13:05 Geändert 18.02.2024, 19:07

          Eskapismus.
          Es lässt sich schwer entscheiden, inwiefern es von Vorteil ist, dass wir in fiktive Welten eintauchen, um für eine Weile die Realität zu vergessen, die uns aufs Gemüt schlägt, ganz egal wie zufrieden wir auch mit unserem Leben sein mögen. Es wird in uns immer eine Lücke geben, die nur mithilfe einer Geschichte gefüllt werden kann, da wir vielleicht verschiedene Seiten von uns entdecken bzw. verstehen lernen, mit denen wir uns in der echten Welt vielleicht nie vertraut gemacht hätten. Sei es aus finanziellen, sozialen, gesundheitlichen oder anderweitigen Gründen, die verhindern, dass wir unseren Horizont erweitern. Jedoch kann es auch schädlich sein, wenn die Fantasie überhand nimmt und unsere neue Realität wird. Wie meistert man den Spagat zwischen Verantwortung und Realitätsflucht? Damit wird unsere Protagonistin Luz Noceda konfrontiert, als sie durch ein Portal auf die Brodelnden Inseln landet, eine Welt voller Hexen, in der sie sich viel mehr heimelig fühlt als bei den Menschen, wo sie sich kaum entfalten konnte und unter den Einschränkungen gelitten hat. Doch ist es weise, der Realität komplett den Rücken zu kehren, nur damit man etwas mehr Zeit in seiner Komfortzone verbringen kann? Ein Dilemma, das von Luz' eigener Mutter verkörpert wird, ihr letzter Anschluss zur Realität, die sie zurückgelassen hat und an ihren Schuldgefühlen nagt, während sie versucht, den Elefant im Raum zu ignorieren.

          Mit diesem Konzept kann so ziemlich jeder, der sich im Spektrum der Neurodiversität verorten lässt, anknüpfen und es ist beachtlich, dass die Serie es nie laut ausspricht, wenn wir die Abenteuer von Luz im OWL HOUSE mitverfolgen (dt. das Haus der Eulen). Man mag sie auf den ersten Blick in eine lange Reihe von optimistischen Protagonist:innen einordnen, und auch wenn sie kein Finn Mertens von Adventure Time ist, werden unter der Oberfläche die Schwächen hinter dieser Fassade entblößt. Denn wenn schon die zweite Episode etabliert, dass diese Geschichte sich vom Auserwählten-Narrativ verabschiedet, um Platz für eine glaubhafte Auseinandersetzung zu machen, wie ein gewöhnlicher Mensch sich in einer Welt voller Magie zurechtfindet, dann wird der Ton für die gesamte Serie gesetzt. Das Problem so vieler Isekai (hey, wenn sich die Serie Anime-Referenzen erlauben darf, dann darf ich das auch) fällt nämlich genau in diese Form von Realitätsflucht, wo man in einer alternativen Welt das Zentrum des Universums ist und wenn auch nicht automatisch schlecht, kann es sich etwas anbiedernd anfühlen für Leute, die ihr Selbstwertgefühl steigern wollen, indem sie einen fiktiven Charakter in ihren persönlichen Avatar verwandeln und die wahre Welt vergessen wollen. Luz hingegen ist ein gewöhnliches Mädchen, die mit ihren Limitationen zu arbeiten hat und nie erweckt die Serie den Eindruck, als müsste sie die mächtigste, wichtigste Hexe sein, um ihre Rolle als Protagonistin zu rechtfertigen.

          Die Welt, die Dana Tarrace erschaffen hat, beweist weiterhin, dass Zeichentrick eine Kunstform ist, die es verdient, die Zeit zu überdauern, auch wenn Disney im letzten Jahrzehnt angefangen hat, seine Wurzeln für massenkompatible 3D-Animation zu ignorieren. Wie auch seine Vorbilder in Form von Adventure Time oder Gravity Falls nutzt OWL HOUSE simple Designs, die den ästhetischen Mehrwert der Abstraktion veranschaulichen, statt sich mit langweiligem Fotorealismus in eine Tech-Demo zu verwandeln. Die Farben schießen aus allen Rohren und schaffen einen schönen Kontrast zu den finsteren, gotischen Designs. Und sollte die Szenerie in einem dynamischen Licht-Schatten-Spiel getaucht sein, können sich die Augen auf eine visuell eindrucksvolle Sequenz vorbereiten, die die Grenzen des seriellen Budgets überschreiten und THE OWL HOUSE zu der vielleicht optisch hübschesten Zeichentrickserie unter Disneys Namen macht.

          Zwar braucht die Serie eine Weile, bevor sie wirklich interessant wird, da die erste Staffel in manchen Abschnitten noch recht familiär ist und einige episodische Konzepte ausnutzt, die man zur Genüge in anderen Geschichten gesehen hat, (auch wenn es in diesem Universum Sinn ergibt), kompensiert das aber mit dem Worldbuilding und Character Work, da sie sich erlaubt, mit den Klischees des Fantasy (bzw. Highschool) -Setting zu spielen, um ihnen eine neue Dimension zu geben. Ein Beispiel wäre Amity Blight, die in den ersten Episoden noch wie ein Draco Malfoy-Abklatsch wirken mag, sich aber im Laufe der Staffel zu einem der tiefgründigsten Charaktere aufsteigt und man muss keine Ewigkeit warten, bis diese Entwicklung einsetzt. Wie natürlich sie von einer Mobberin zu einer guten Freundin (und potenziellen Liebhaberin) aufblüht, ohne dass die Probleme der Vergangenheit ignoriert werden, ist wirklich rührend und das ist im Ensemble von THE OWL HOUSE nicht die Ausnahme, sondern die Regel. So gut wie jeder hat ein zweites Gesicht, nur sehen die Autor:innen das nicht als Ausrede, um jedermanns Schuld gleich unter den Teppich zu kehren. Selbst wenn jemand eine tragische Vorgeschichte haben mag, entschuldigt das nicht alles, was sie angerichtet haben und manchmal haben sie zu viel Schlimmes getan, um es je wieder gut zu machen. Das fühlt sich viel natürlicher an als wenn man auf Teufelkommraus jeden redeemed und das im Nachhinein ziemlich bedenklich wirkt.

          Ab der zweiten Staffel legt die Serie dann einen neuen Gang ein und liefert eine tolle Episode nach der anderen ab, die den Plot und die Charaktere Höhen erreichen lässt, von denen Staffel 1 nur träumen könnte. Bestimmte Nebencharaktere, die nur okay waren, werden zu Favoriten; die Lore wird so arg vertieft, dass sie selbst die früheren schwächeren Episoden aufwertet und der Ton wird ernster denn je. Es ist kein Wunder, dass die Serie eine Community angelockt hat, die erwachsener war als Disney wollte (dazu kommen wir nochmal zurück). Dana Terrace geht sogar so weit, dass sie eine bestimmte Episode bewusst wie eine Filler-Geschichte aufbaut, nur um dann den Teppich unter unseren Füßen wegzuziehen, und in Sachen Tiefgründigkeit, Plotrelevanz und artistische Umsetzung eine Schippe drauflegt. Es ist teils kriminell, wie unfassbar charmant diese Serie ist. Sie mag zwar in Sachen Humor keine Goldmine wie Gravity Falls sein (oder so clever), aber es ist passend, dass die (ehemalige) Freundin von Alex Hirsch das mit Herz kompensiert, aber trotzdem noch genug Hirn übrig lässt, um ihren Zuschauern was zu denken zu geben. Das kommt z.B. in Form des dialektischen Umgangs mit den Hexenzirkeln und der wilden Magie, die sich sehr gut auf unsere Gesellschaft anwenden lassen, wo das gesamte Potenzial eines Individuums nur auf eine kleine Handvoll Talente reduziert wird, die der Gesellschaft dienen und einem nicht gestattet wird, sich weiter zu entfalten als das. Und ich persönlich kann mich da wirklich bei Luz einfühlen, die sich aufgrund dieses Konstrukts nicht selbst finden kann, da sie sich an all ihren Begabungen festhalten möchte, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden.

          Und da gerade von Herz die Rede war, muss ich betonen, wie bahnbrechend die LGBT-Repräsentation in diesem Cartoon ist. Es ist wie als hätten die Macher alle Stärken der Vergangenheit kombiniert und sich aller Schwächen entledigt (natürlich ist das der Zeit verschuldet, aber trotzdem). Es geht sogar so weit, dass selbst Hetero-Romanzen was davon lernen könnten. Während so viele gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen nur subtil angedeutet werden durften, bis es erst am Schluss eine Bestätigung gab, verwöhnt uns THE OWL HOUSE mit allen Phasen, die zu dem Bilden einer Beziehung gehört, ohne etwas zu überstürzen oder den Prozess artifiziell in die Länge zu ziehen, um höhere Zuschauerzahlen zu generieren. Die Kennenlernphase nimmt sich genau so viel Zeit wie notwendig, um die Beziehung zweier ungleicher Seelen von dezent antagonistisch zu romantisch aufzubauen und gibt dem allem die erforderliche sexuelle Spannung, die Jugendliche in dem Alter verspüren, wenn sie mit diesen Emotionen konfrontiert werden. Und so herzallerliebst es auch sein mag, ist die Serie klug genug zu erkennen, dass das schnell alt werden könnte, wenn man die Zuschauer für viel zu lange ködert und lässt die beiden einfach in der Mitte der Serie zusammenkommen. Ich bin so glücklich in einer Zeit zu leben, wo man die Phasen nach dem Geständnis zu sehen bekommt, etwas, das uns viel zu oft verwehrt wurde, besonders wenn die Beziehung sich so natürlich anfühlt. Nichts wird wie ein Instagram-Filter verschönert, noch verkommt die Serie zu forciertem Melodrama. Die unausweichlichen Probleme und Komplikationen werden erwachsen behandelt und stehlen auch nicht zu viel Zeit von den vielen anderen Handlungssträngen, es ist perfekt balanciert. Ich wünschte nur, dass Disney das anders gesehen hätte …

          Denn das größte Problem der Serie ist genau das Studio, das ihr grünes Licht gegeben hat. “Seltsamerweise” wurde THE OWL HOUSE eingestampft (kurz nachdem die ersten LGBT-Elemente es in die Serie geschafft haben, na so ein Zufall aber auch), da sie “nicht zu Disneys Marke passt”. Staffel 3 wurde extremst gekürzt und hat Dana und ihrer Crew nicht erlaubt, ihre volle Vision zu realisieren. Deswegen ist es umso beeindruckender, dass sie trotz dieser unfairen Bedingungen ein äußerst zufriedenstellendes Finale abgeliefert haben, das besser ist als bestimmte Serien, die alle Zeit der Welt hatten, alles würdig abzuschließen. Zwar wird dadurch leider nicht das volle Potenzial der Serie ausgenutzt, was natürlich nicht die Schuld der Macher ist, aber ich kann mich glücklich schätzen, dass am Ende nichts ruiniert wurde. Und dass Disney seine Entscheidung jetzt zutiefst bereut, nachdem sie nach all ihren Flops im Jahr 2023 bemerkt haben, wie viele Millionen Leute zum THE OWL HOUSE Finale hingezogen waren und es mit Lob und Preis überschüttet haben. Naja, Karma würde ich sagen =)
          Der Serie ist es gelungen, sich von Disneys Fesseln zu befreien und verdient es, nicht mit diesem kunstfeindlichen Konzern assoziiert zu werden. Kreativität sollte wie wilde Magie nicht unterdrückt werden. Erst dann erschafft man Zaubertricks, die sich in unsere Erinnerungen einbrennen.

          1
          • 7 .5

            Man kommt nicht umhin, den Begriff “Kinderserie” mit negativen Konnotationen zu assoziieren. Wie als wäre es eine Schande, dass ein Werk keine Barrieren aufbauen muss, die nur von Zuschauern ab einem bestimmten Alter überwunden werden dürfen, was sie automatisch “reifer” macht. Aber kommt man wirklich erwachsener rüber, wenn man seine Geschichte mit plakativer Gewalt, selbstzweckhaften Schimpfworten und ach so verstörenden Inhalten ausschmückt? Entspringt wahre Reife nicht aus den Lebensweisheiten, die wir im Laufe der Zeit sammeln und uns eine neue Perspektive von allem geben, die unsere eingeschränkte Sichtweise als Kind nicht ermöglicht hat? Dieselbe Logik lässt sich bei ADVENTURE TIME anwenden, jedoch in einem sukzessiven Prozess. Denn in den ersten Episoden fängt die Serie dieselbe unschuldige Abenteuerlust ein, die den Hauptcharakter Finn antreibt. Er ist jung, naiv und gibt alles, um der Retter des Königreichs Ooo zu werden. Dieses kindliche Mindset wird auch in der bonbonbunten Welt reflektiert, die mit ihrem simplen Artstyle jedermanns Bild einer “Kinderserie” gerecht wird. Alles entspricht der Fantasie, die wir einst als Kinder hatten, als wir mit Holzschwert und Umhang unsichtbare Monster in unserem Garten bekämpft haben. Doch wie unser Hauptcharakter wird diese Serie lernen, was es heißt, erwachsen zu werden und zusammen mit dem Zuschauer einen Reifeprozess durchzugehen.

            Doch im Vergleich zu so vielen anderen Geschichten, die im Laufe der Jahre in düstere Gebiete Fuß gesetzt haben, was die Altersfreigabe dann signifikant erhöht hat, verliert Adventure Time nie seinen kinderfreundlichen Ton, mit dem alles angefangen hat. Es besteht keine Schande darin, seine Unschuld zu bewahren, solange man mit der Zeit weiser wird. Denn wenn die Serie eines beweist, dann dass man wichtige Botschaften auf eine Weise kommunizieren kann, die universell ist, ohne sie mit einem zynischen Anstrich zu besudeln. Es gibt nämlich einen großen Unterschied zwischen Kinderfreundlichkeit und sein Publikum für dumm zu verkaufen. Ehrlich gesagt habe ich mehr “erwachsene” Werke gesehen, die die Intelligenz des Zuschauers deutlich mehr beleidigen als jeder infantile Witz im Land von Ooo. Viel zu oft sind die Botschaften vieler anderer Geschichten nicht nur schmerzhaft offensichtlich, sondern werden auch noch unheimlich unsubtil in unser Gesicht geschmiert. Deswegen ist es sogar vorteilhaft, wenn ADVENTURE TIME seine erwachsenen Themen auf eine unkonventionelle Art kommuniziert, die Kinder vielleicht nicht sofort aufgreifen, aber sie in ihrer Out of the Box Präsentation & Erzählung einzigartig machen.

            Von existenziellen Fragen über unseren Platz im Universum bis hin zur Erkundung der eigenen Sexualität und den Beziehungen, die uns als Mensch formen. Die herzzerreißenden Auswirkungen von Alzheimer werden mit einer magischen Krone kommuniziert. Der schlechte Umgang mit seinen eigenen Fetischen wird durch die Kämpfe zweier Elemente aufgebracht. Dabei schränkt diese Form der Zensur keineswegs die zwischenmenschliche Tiefe ein. Während so viele andere Kinderserien erwachsene Themen nicht bis zum Ende durchdenken oder nur oberflächlich angekratzt haben bzw. inkonsequent behandeln, steht ADVENTURE TIME mit seiner Konsequenz hervor. Manchmal reicht eine Entschuldigung nicht aus, um einen gravierenden Fehler in einer Beziehung wettzumachen. Vielleicht ändern entfremdete Familienmitglieder nie ihre missbräuchlichen Tendenzen und man muss das akzeptieren lernen. Die aufblühende Reife unseres Protagonisten wird auch im Storytelling reflektiert, ohne dass die Serie ihr episodisches Format aufgibt.

            Auch wenn ich früher ein größerer Fan davon war, wenn eine Handlung über einen klaren roten Faden verfügt, habe ich im Laufe der Jahre den künstlerischen Ausdruck von Serien wertschätzen gelernt, die kein klares Ziel vor Augen haben, sondern mit einer Reihe von (zehnminütigen) Vignetten aus verschiedenen Perspektiven ein Lebensgefühl einfangen, sei es witzig, tragisch und alles dazwischen. Die Geschichten von ADVENTURE TIME sind vergleichbar mit Forrest Gumps Pralinen, da man nie weiß, was man kriegt. Und manchmal weiß man sogar am Anfang einer Episode nicht mal, was einen erwartet, da man plötzlich von einer harmlosen Pinguin-Party zu der Vorgeschichte eines kosmischen Ungeheuers wechseln kann. Selbst eine einfache Rehjagd entwickelt sich völlig unerwartet in eine Horrorgeschichte, die man gut als Creepypasta hätte verkaufen können. Und trotz allem behält die Serie ihren Sinn für Humor, die das Land von Ooo überhaupt so liebenswert macht.

            In einer Welt voll mit Süßigkeit-Menschen, Vampiren, schreienden Zitronen und Pferden auf Bällen wäre es auch absurd, das Potenzial für diverse durchgeknallte Pointen nicht auszunutzen. Selbst wenn die Serie anfangs noch an ein jüngeres Publikum gerichtet ist, was auch die Witze mit einschließt, dauert es nicht lange, bis die Autoren sich Konzepte einfallen lassen, die so irrsinnig sind, dass es einem Fiebertraum gleicht. Und auch mal hier und da etwas schwarzen Humor einzubauen, der uns aufgrund des unschuldigen Settings deutlich mehr vor den Kopf stößt und die Lachmuskeln ankurbelt. Deshalb ist es umso beeindruckender, wenn die Geschichte es dann hinkriegt, all diesen Nonsens auf eine Weise zu verpacken, der im Nachhinein dann doch Sinn ergibt und für ein überraschend konsistentes Worldbuilding sorgt. Es ist schon kennzeichnend, wenn das allererste Bild des Openings einen Einblick in die Vergangenheit dieser Welt gibt, etwas, das erst in drei, vier Staffeln wirklich aufgegriffen wird. Es gab keinen Grund, so weit voraus zu denken, aber dennoch gingen die Autoren die Extrameile, was mich überaus glücklich macht.

            Die Serie ist das perfekte Beispiel, wie man seine Limitationen zu seinem Vorteil nutzen kann und sie in Stärken umwandelt. Sei es die Episodenlänge, die Altersfreigabe oder insbesondere der Look. Die Welt erweckt den Eindruck, als wäre das Gekritzel von Kindern zum Leben erweckt worden, und doch wird dadurch eine einzigartige Ästhetik erzeugt, die weit interessanter anzusehen ist als der neue, hyperrealistische Trend von Disney und Pixar, wo es wirkt, als würden sie sich mehr und mehr von dem Medium der Animation wegbewegen. ADVENTURE TIME hingegen, weiß, was es ist und schämt sich keineswegs, mit der simplistischen Präsentation zu arbeiten und unseren Augen ein farbenfrohes Wunderland zu präsentieren, wo selbst ein einfaches Smiley Gesicht genau so viel Emotionen ausdrücken kann wie die realistisch aussehendste Visage. Die Serie ist wie ein Kind, das man langsam vor seinen Augen wachsen sieht, bis es dann irgendwann mit uns auf Augenhöhe ist und wie ein Erwachsener konversiert. Unwiderstehlich charmant, überraschend klug und eine hervorragende Kombination unserer beiden Gehirnhälften, wo eine das Kind in uns am Leben hält und die andere die Weisheit beinhaltet, die wir im Laufe der Jahre gewonnen haben. Ein Fest der Sinne.

            2
            • 7 .5

              Wenn wir unsere heutige Kinolandschaft unter die Lupe nehmen, so erkennen wir doch, wie die Massen langsam anfangen, die Nase voll von bestimmten Formeln zu haben. 4 von 6 Superheldenfilme sind gefloppt, während Filme wie Oppenheimer (und sogar Barbie, trotz des Wiedererkennungswerts der Marke) mehr Kasse machen als manche der massentauglichsten Blockbuster. Es ist wie als hätten sich Scorseses Vorhersagen erfüllt und die Zuschauer mehr Interesse an echtem Kino gewonnen. Garantiert das automatisch einen Kassenhit für seinen neuesten Streifen KILLERS OF THE FLOWER MOON? Unwahrscheinlich, aber ich lasse mich gerne von der Intelligenz der Kinogänger überraschen. Denn wenn dieser Film eines beweist, dann dass manche Formeln tatsächlich funktionieren können, nicht unbedingt in Bezug auf ein bestimmtes Genre, sondern was den Stil eines Regisseurs angeht.

              Seit GOODFELLAS erzählt Martin uns häufig die Geschichte eines Underdogs, der aufsteigt, indem er in eine Verbrecherfamilie aufgenommen wird oder generell kriminelle Aktivitäten unter Verschluss hält, nur um dann am Ende alles zu verlieren, was er aufgebaut hat. Diese Verschmelzung aus Charakterdrama und Kapitalismuskritik bekamen wir in verschiedenen Formen zu sehen. Vom satirischen Biss in THE WOLF OF WALL STREET zu dem melancholischen Generationendrama THE IRISHMAN, Scorsese wusste immer wieder diese Geschichte aufzufrischen, ohne dass es sich repetitiv oder uninspiriert angefühlt hat. Denn manchmal lassen sich Formeln nicht nur auf die Kunst, sondern auf die echte Welt übertragen. Es heißt ja sogar, dass wir Menschen über Jahrhunderte, Jahrtausende dieselben Fehler wiederholen. Ist das nicht für sich selbst gesehen eine Formel, die es wert ist, immer wieder erzählt zu werden? Denn hier zeigt uns Scorsese mit bedrückender Western-Ästhetik und einheimischer Blues Musik die wahre Geschichte der Osage-Massaker.

              Es wurden im Laufe der Jahrzehnte viele Filme herausgebracht, die auf das Leid der Natives fokussiert haben, als die weißen Männer sie ihres Landes beraubt haben, aber aus dieser Perspektive und Zeit eher selten. Als pseudoliberale, politische Figur in Oklahoma plant William “King” Hale gespielt von DeNiro die wohlhabenden Osage-Familien auszubeuten, indem er sie nach einer erfolgreichen Vermählung aus dem Weg räumt, damit das Geld seiner Familie vererbt wird. Der Film zeigt diese Ereignisse aus der Sicht von Ernest Burkhart, gespielt von DiCaprio, der ziemlich leicht in die White Saviour-Falle hätte treten können, aber ganz klar den Eindruck gibt, dass er auf einer echten Person basiert, wo diese Klischees nicht zutreffen. Während er in THE DEPARTED den tragischen Held spielen durfte und sich bei THE WOLF OF WALL STREET von seiner schleimigen, unsympathischen Seite zeigte, ist er hier keines von beiden, obwohl seine Taten wesentlich schlimmer sind. Hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe für seine einheimische Frau Mollie und seiner Pflicht als Teil der Hale-Bande, bringt Leo eine sehr nuancierte Schauspielleistung hervor, wo man fast schon Mitleid für ihn empfindet, obwohl er es nicht wirklich verdient. Doch die Show stiehlt Lily Gladstone, die mit ihrer subtilen Ausdrucksweise nicht nur auf Augenhöhe mit DiCaprio ist, sondern ihn sogar an die Wand spielt, ohne jemals ihre Stimme zu erheben. Der unbeschreibliche Schmerz, den sie hinter dieser kühlen Fassade versteckt, ist wirklich eindrucksvoll, ohne dass der Film es zu sehr fetischisiert oder plakativ umsetzt.

              Wie zu erwarten sieht der Film mal wieder wunderschön aus und veranschaulicht, was den Massen entgeht, die es sich in den großen Sälen gemütlich machen, wo dieser Film nicht ausgestrahlt wird, und nicht mal einen Funken von derselben künstlerischen Ader zu sehen kriegen. Wenn sich der Film mit einem Wort beschreiben ließe, dann wäre es zeitlos. Der Film hätte vor 20, 30 Jahren rauskommen können und ich hätte es geglaubt. Die Bildkomposition und die Belichtung machen nahezu jeden Frame zu einem visuellen Augenschmaus, ohne dass zu oft mit der Kamera rumgespielt wird. Wenn der Film eines kann, dann auf Momente festzuhalten, die mehr auf Immersion statt auf Flashiness legen. Man kann schon fast das Öl auf der schwitzigen Haut riechen. Die Hitze des goldenen Feuers spüren, die das Bild unscharf macht und die anwesenden Menschen in unidentifizierbare, bedrohliche Silhouetten verwandelt. Das Kino lebt und Scorsese sorgt weiterhin dafür, dass es so bleibt. Es liegt nur an uns, es entsprechend zu würdigen und zu unterstützen.

              14
              • 7 .5
                Chloe.Price 12.10.2023, 12:43 Geändert 12.10.2023, 12:47
                über Arcane

                Es spricht wirklich für ARCANE, dass ich von dem Hype gewusst habe, aufgeregt aber auch mit Bedacht an die Serie herangegangen bin und letzten Endes dennoch positiv überrascht wurde. Was nicht daran liegt, dass sie schon sehr früh die Höhen anderer großen Serien erreicht, sondern weil sie jeden Augenblick ihrer gegebenen neun Episoden ausnutzt, um ein stabiles Fundament aufzubauen, das dann in Zukunft Raum für genau solche Szenen lässt. Ich habe das Gefühl, dass viele Zuschauer unterschätzen, wie wichtig eine gute Einführung doch sein kann, selbst wenn der Wow-Faktor noch recht gering gehalten wird. Denn statt dass man sofort zu den aufregenden Kämpfen schneidet, die viele Leute mit dem Onlinespiel assoziieren, auf dem diese Serie basiert, legt Riot Games den Fokus auf Immersion, die Art, die George R. R. Martin stolz machen würde.

                Ein großer Fehler, den so viele Videospiel-Adaptionen machen (besonders die, die actionfokussiert sind), ist ihre Unfähigkeit, das gegebene Material auf ein anderes Medium zu übertragen. Für die spielen die Welt, die Charaktere oder die Lore zweite Geige, um mehr Raum für das zu machen, was die Massen von der Marke erwarten. ARCANE geht doch jedoch in eine völlig andere Richtung und stellt Worldbuilding und Character Work über alles andere, bis wir am Ende einen so guten Überblick über die Hierarchie, Politik und Technologie von dem Steampunk-Paradies Piltover haben, dass es sich wie ein echter Ort anfühlt. Statt epischen Kämpfen sind klein gehaltene, zwischenmenschliche Charaktermomente die Höhepunkte der Staffel und fesseln mehr, als es jedes Duell je könnte. Mich interessieren Jinx Probleme mit ihrer geistigen Gesundheit mehr als ihre Haftbomben. Statt seines Hammers sehe ich lieber, wie Jayce als aufsteigende, politische Figur mit Reden schwingt. Und wenn Vi ihre Hand gegen das faschistische Regime erhebt, bin ich viel gebannter, wenn sich die in der Hand einer anderen Frau verschließt, die sie einst als den Feind gesehen hat. Das Ensemble von ARCANE ergänzt sich perfekt, um uns mit den Leitmotiven der Geschichten vertraut zu machen. So getrennt ihre Handlungsstränge sein mögen, so bilden sie thematisch eine Einheit.

                Als es gelingt, Magie mit Wissenschaft herzustellen, wird dieser Durchbruch von allen Seiten beleuchtet. Manche hässlich, andere euphorisch. Lässt diese Macht einen Haufen Erfinder aus der Oberschicht in der Luft schweben, schmilzt sie zur selben Zeit jemand anderem aus der Unterschicht das Fleisch von den Knochen. So wie die Entdeckung des Feuers in unserer Welt für Wärme gesorgt hat, sorgte es auch für Zerstörung, die die Menschen gelernt haben, zu wappnen. Die Serie setzt sich mit dem Thema zur Genüge auseinander, indem sie alle Perspektiven mit einschließt, sei es in Form von Klasse, Ethik, Ökonomie, technologischem Fortschritt … Für eine Geschichte, die sich mit fantastischen Themen auseinandersetzt, ist sie überraschend dialoglastig. Man hätte einfach einen Zeitsprung machen können, wo die magischen Waffen längst gebaut wurden, stattdessen behandelt ARCANE sein Publikum wie Erwachsene, indem sie das Wunder sowie den Horror einfängt, wie eine solche Entdeckung eine ganze Stadt auf den Kopf stellen kann und ich respektiere das ziemlich hart. Auch in Sachen Konflikte scheuen sich die Macher keineswegs, einige fiese Twists in die Handlung einzubauen, die unsere Komfortzone nach und nach völlig einreißen. Es ist, als wären die ersten beiden Episoden bewusst auf einem generischen Fundament aufgebaut worden, damit wir umso mehr aus dem Gleichgewicht fallen, wenn uns dann der Teppich unter den Füßen gezogen wird. Mehrmals. Die Grenze zwischen Gut und Böse wird immer verschwommener, Leichen häufen sich an und selbst wenn mal im letzten Akt die Actionsause losgeht, wird die Euphorie sofort untergraben, als die “Helden” realisieren, dass sie in Wahrheit Kinder auf dem Gewissen haben.

                Wenn ARCANE eines ist, dann mutig. Auch wenn es darum geht, seinem Publikum zu vertrauen, da nicht alles für einen ausbuchstabiert wird. Das geht weit darüber hinaus als “Person gut/böse” usw. Sei es zum Beispiel die Beziehung zwischen den Antagonisten Silco und Jinx. Dafür, dass Ersterer sie bei sich aufgenommen hat, als sie noch ein Kind war, ist ihre Körpersprache in ihren gemeinsamen Szenen etwas zu intim, als dass sie dem herkömmlichen Vater- und Tochterbild entsprechen, was umso mehr Fragen über Jinx Psyche aufwirft. Und das ist nur ein kleines Detail von vielen. Die Serie gibt dem Zuschauer genug Interpretationsraum, um die Lücken für sich selbst zu füllen.

                Visuell stellt die Serie neue Maßstäbe auf. Selten war 3D Animation aus dem Westen so pittoresk und ästhetisch beeindruckend. Das stellt selbst animierte Blockbuster mit 100 Millionen Dollar Budgets in den Schatten. Statt in die Fotorealismus-Falle zu treten, steht Stil an vorderster Stelle. Dadurch kehrt ARCANE zu den Wurzeln aller Animation zurück und kombiniert 3D Modelle mit einer Zeichentrick-Ästhetik. Nahezu jedes Bild würde ich am liebsten in meinem Zimmer aufhängen, es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kunstwerk. Es hilft auch, dass die Inszenierung das unterstützt, da man teils wirklich den Eindruck hat, dass das alles von einem echten Kameramann vor Ort gedreht wurde. Wenn man die Dynamik der Kamera mit dem stilistisch-naturalistischen Look kombiniert, steigert das die Immersion enorm und lässt jeden Schauplatz greifbar aussehen. Von den dreckigen Abflüssen bis hin zu den polierten Ballsälen. Sogar die Tagesszenen, die selbst bei den besser aussehenden 3D Animationsfilmen immer etwas zu matt aussehen, haben dank der expressiven Farben, der dynamischen Belichtung und dem Linework den nötigen Kontrast, um den Gemälde-Look beizubehalten. Die Designs mögen zwar nicht realistisch sein, aber sie fühlen sich so an. Wie die Statuen aus dem Intro will man am liebsten jeden Charakter in einem Museum ausstellen.

                Und es hilft auch, dass sie alle richtig gut geschrieben sind. ARCANE ist das Totschlagargument schlechthin gegen Leute, die das Lügenmärchen glauben, dass ein Ensemble, das hauptsächlich aus starken Frauen (inklusive LGBT Charaktere) besteht, ein Werk immer ruiniert. Dabei hätte das so leicht schiefgehen können, da viele Archetypen auftreten, mit denen schon in der Vergangenheit schlecht und oberflächlich umgegangen wurde (looking at you, Disney). Doch ARCANE ist klug genug, zu erkennen, dass man mit jedem möglichen Charakter arbeiten kann, völlig egal, was die Fassade über einen auch aussagen mag, und gibt allen eine dritte Dimension. Wenn nicht schon für die Ästhetik, würde ich allein dafür zur Serie zurückkommen wollen, da ich wirklich wissen will, wie sich jeder einzelne von ihnen weiterentwickelt, besonders nach dem Ende der Staffel, das mir wirklich die Sprache verschlagen hat.

                Denn da kulminiert alles, was ich aufgelistet habe, zu einem poetischen, bittersüßen Zirkelschluss und das in nur drei beeindruckenden Minuten. Hier werden dramatische Ironie, Parallelen zu früheren Ereignissen und sämtliche Character Arcs in einem Moment eingefangen, der sich inszenatorisch in meine Netzhaut eingebrannt hat. Tragisch ohne Ende, aber wunderschön zugleich. Die perfekte Schlussnote, die das gesamte Stück um ein Vielfaches aufwertet, wo selbst der Cliffhanger zur Intensität und Finalität beiträgt und die Erfahrung keineswegs ruiniert. Im Gegenteil. Trotz aller Fragen ist uns bewusst, was dieser Augenblick bedeutet und wie alles, das etabliert wurde, darauf aufgebaut hat. Nicht ein Charakter war verschwendet, jeder Moment hat gezählt. Wenn das hier nur das Fundament ist, kann ich kaum erwarten, was als nächstes kommt. Bravo.

                7
                • 7 .5

                  Das war mal eine Odyssee, im wahrsten Sinne des Wortes.
                  Hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Nicht weil die Dauer von fast 1000+ Episoden für jeden Otto Normalverbraucher abschreckend klingen mag, sondern weil ich genau genommen nicht zu der Zielgruppe gehöre. Dabei ist mir die Shounen-Formel, die Werke wie Dragon Ball populär gemacht haben, keineswegs fremd, ich konsumiere sie sogar hin und wieder in kleinen Mengen, doch genau darauf kommt es an: die Länge. Wenn es kurz und schmerzlos ist, bin ich offen für etwas pathetische Hirn-Aus-Unterhaltung. Trotz allem sollte man diese Serien in keine Schublade stecken, da viele Künstler unserer Zeit in der Lage waren, die Formel zu dekonstruieren oder umzudenken, was Meisterwerke hervorgebracht hat, die ihresgleichen suchen. Jedoch ist Eiichirō Oda nicht hier, um das Rad neu zu erfinden, sondern trägt diese fast schon unschuldigen Traditionen des Storytellings wie eine Zeitkapsel mit sich, da die Abenteuer der Strohhutbande selbst nach zwei Jahrzehnten immer noch nicht zu Ende erzählt sind. Also wie soll jemand wie ich, den Powerups kalt lassen, Freundschafts-Esoterik zum Stöhnen bringt und generell diese “Hurra, Welt”-Naivität auf den Zeiger geht, die Geduld aufbringen, diese Sisyphusarbeit hinter mich zu bringen? Diese Entwicklung war für sich genommen auch ein Abenteuer, da ich jetzt an einem Punkt gekommen bin, wo ich One Piece als eines der beeindruckendsten Werke unserer Zeit sehe, Schwächen mit eingeschlossen.

                  Dabei sah es am Anfang noch ganz anders aus. Alles, was mir bei diesem Genre gegen den Strich ging, war aufzufinden: eindimensionale Cartoonschurken, hirnloses Gekloppe, nervig optimistische Helden, oberflächliches Drama … Wäre die Serie um ein Vielfaches kürzer, hätte ich das halbwegs verdauen können, aber der Gedanke, das über so lange Zeit durchstehen zu müssen, war gruseliger als jedes Ungeheuer in den Tiefen der Grand Line. Selbst wenn mich mal ein Abenteuer oder auch nur eine Episode positiv überrascht hatte, war das nicht genug, um das Gefühl abzuschütteln, dass das die Ausnahme und nicht die Regel für dieses Abenteuer sein würde. Also wie kommt es, dass ich mich irgendwann nicht mehr davon überzeugen musste, weiterzuschauen, sondern mich willentlich auf den nächsten Stand von One Piece gebracht habe? Ganz einfach, weil die Seherfahrung vergleichbar mit dem Fertigstellen eines Puzzles ist. Am Anfang ist noch alles unübersichtlich und man muss die Geduld aufbringen, die Teile zu kombinieren, um sich ein Bild von Odas Vision machen zu können. Aber funktioniert diese Metapher nicht für jede Serie? Nein. Eine Serie, die ohne einen festen Plan in die Länge gezogen wird, ist in dem Fall mehr mit einem Jenga-Turm vergleichbar, auf den man immer mehr Klötze stapelt, bis er irgendwann umfällt und ein einziges Durcheinander übrig bleibt. Denn trotz seiner anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es Oda nicht nur, sich als Autor und Künstler auf neue Höhen zu begeben, sondern macht auch die Tiefen nachträglich sehenswert, indem er mit jedem neuen Abenteuer, jedem eingeführten Charakter, jedem neuen Ereignis seinem Publikum tausend Schritte voraus ist und sie immer wieder im Laufe von aberhunderten Episoden für ihr gesammeltes Wissen belohnt.

                  Diese Serie verkörpert die Philosophie von Tschechows Waffe in jeder einzelnen Facette und überlässt nichts dem Zufall. Das geht sogar so weit, dass scheinbar belanglose Ereignisse fast 1000 Episoden später rekontextualisiert werden und das komplette Weltbild auf den Kopf stellen, ohne dass es sich je konstruiert anfühlt. Diese Überraschungen, die uns ein besseres Verständnis über die Welt, die Charaktere und ganz besonders über die Lore, die sich auf über 800 Jahre in die Vergangenheit rausstreckt, geben, gibt es zuhauf in One Piece und füllt mit der Zeit jeden weißen Fleck auf unserer imaginären Karte aus, sodass wir irgendwann aufhören, die Absurdität zu hinterfragen und erkennen, wie nahtlos alles miteinander verbunden ist. Man wechselt von einem Epos über Samurais und Drachen in einem Land, das der Edo-Periode in Japan nachempfunden ist, zu einer futuristischen Cyberpunk-Insel und es fühlt sich auf wundersame Weise glaubhaft an, da die Saat über aberhunderte Episoden gesetzt wurde und unter der Oberfläche stetig gewachsen ist. Jedes neue Abenteuer tut gefühlt zehn Dinge gleichzeitig, ohne dass es uns erst bewusst wird. Sie funktionieren als eigenständige Geschichten, aber geben auch vielen Ereignissen der Vergangenheit so viel mehr Kontext und setzen Ereignisse in Bewegung, die erst nach 10 weiteren Geschichten wieder aufgegriffen werden. Es geht sogar so weit, dass selbst ein einfaches Stück Papier, das dem Hauptcharakter in Episode 101 gehändigt wird, dann in Episode 381 extremst signifikant und erklärt wird. Und das kratzt nur an der Oberfläche, was der Meister des Foreshadowings und Worldbuildings Eiichirō Oda zustande kriegt.

                  Auch sein Stil ist ziemlich einzigartig, wenn auch gewöhnungsbedürftig. Während so viele andere Anime versuchen, ernst genommen zu werden und das nächste große Ding zu sein, schämt sich One Piece keineswegs über seine Cartoon-Wurzeln und verleibt sie völlig ein. Die Designs sind teils so absurd und verrückt, dass man sich manchmal wundert, was für Pillen der Mann geschluckt haben muss, um auf solche Ideen zu kommen, im guten sowie im schlechten Sinne. Ein Nachteil des Animes ist, dass er eine Weile gebraucht hat, bis er diese Zeichnungen auf eine Weise umgesetzt hat, die ästhetisch ansprechend ist, völlig unabhängig von den technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit. Doch in den letzten Jahren hat es One Piece geschafft, seine eigene Handschrift zu finden, die die Serie zu einem visuellen Rausch macht, ohne die comichafte Natur aus den Augen zu lassen. Die volle Verkörperung von Style über Fotorealismus. Wenn selbst die finale Form von Monkey D. Ruffy mehr eine Hommage an alte Cartoons darstellt, statt als 0815 “epische Szene” zu fungieren, dann weiß man, wo die Serie ihre Prioritäten setzt. Eine Schamlosigkeit, die äußerst ansteckend ist. Doch das heißt noch lange nicht, dass sie unseriös ist.

                  Wir haben es hier mit einem sehr einzigartigen Tonebalancing zu tun. Während viele Shounen alberne Momente auf einem seriösen Fundament aufbauen, funktioniert One Piece genau andersrum. Hier soll Drama aus einer Welt geholt werden, die sich förmlich dagegen wehrt, ernst genommen zu werden. Die Serie wechselt das Genre in gefühlt jedem Arc und präsentiert uns alle möglichen Formen von sonderbaren, fantastischen Einfällen, die so weit von unserer Realität entfernt sind, wie man es sich nur vorstellen kann. Doch One Piece größte Stärke ist es, all den Wahnsinn auf eine Weise zu verpacken, die sich bodenständig anfühlt. Wenn man bedenkt, dass unsere Helden eine Zivilisation in den Wolken, eine Insel voller tierischer Zombiewesen bis hin zu artifiziell gezüchteten Drachen in einer Fabrik auffinden und wir dennoch das Gefühl haben, dass sich all das immer noch greifbar anfühlt, dann ist das wirklich eine gewaltige Leistung. Und umso mehr beeindruckend, wenn wir tatsächlich mit dem, was wir sehen, emotional anknüpfen und mitfiebern, wenn mal wirklich die Kacke am Dampfen ist, völlig egal, wie viele überdrehte Grimassen an jeder Ecke zu sehen sind. One Piece mag zwar keinen neuen Standard in Sachen Drama und Character Writing setzen, aber traut sich letzten Endes doch viel mehr, als man von seiner eher simpleren Fassade erwarten würde. Unter all der bunten Farben und Albernheit wird die Strohhutbande mit faschistischen Systemen, Sklaverei, Rassismus und vielen anderen Themen, die wir aus unserer Welt kennen, konfrontiert und nimmt die tatsächlich ernst. Wenn es mal an der Zeit ist, die harte Realität zum Vorschein zu lassen, wird darauf verharrt und nicht gleich mit einem Witz untergraben. Wenn dann unsere kunterbunte Truppe lernen muss, was es heißt wirklich zu leiden, dann nimmt sich Oda Zeit für jeden einzelnen, wie als wären sie seine Kinder. Das schließt sowohl Nebencharaktere als auch Antagonisten ein. Für eine Geschichte, die sich so sehr im Fantastischen austobt, ist es doch bemerkenswert, dass diese Menschlichkeit nie verloren geht.

                  Jedoch ist One Piece keineswegs fehlerlos, was bei einer Serie dieser Länge zu erwarten ist. Manchmal ist Oda zu sehr in sein episches Storytelling verliebt, sodass die Abenteuer sich immer ein Stück zu lang anfühlen als nötig. Es hilft auch nicht, dass das Studio Toei Animation immer wieder mal das Tempo runterfährt, um dem jetzt noch geschriebenen Manga einen Vorsprung zu geben, was in den späteren Arcs für ein ziemlich inkonsistentes und manchmal quälend langsames Pacing sorgt. Ich habe schon fast ein Trauma von all den überflüssigen Flashbacks und sinnlosen Reaction Shots, da wären mir Filler-Episoden lieber gewesen, da man die wenigstens überspringen kann, ohne das Tempo der ursprünglichen Geschichte zu ruinieren. Besonders wenn das bei Actionszenen passiert, ist das schmerzhaft, da den Kämpfen besonders am Anfang noch die strategischen Elemente oder der artistische Flair anderer Serien fehlen, wodurch es dann schnell eintönig wird. Wenn dann auch noch die Minibosse die Tiefe und das Charisma von Toastbrot haben, ist das der sicherste Weg zur Katastrophe. Auch viele Running Gags werden schnell alt, besonders in Bezug auf Frauen. Was ziemlich ärgerlich ist, da One Piece im ersten Drittel überraschend zurückhaltend war, was Fanservice und die Objektifizierung von Frauen angeht. Nicht nur das, sie waren oftmals die bestgeschriebenen und interessantesten Charaktere der Geschichte, dazu noch äußerst kompetent und unabhängig, ohne dass sie je zu Love Interests oder Jungfrauen in Nöten verkommen. Und auch wenn das immer noch der Fall ist, ist es umso frustrierender, wenn sie sich simultan als Eyecandy für uns Zuschauer hergeben müssen, was für einige peinliche Momente sorgt.

                  Doch trotz aller Stolpersteine kann ich stolz auf diese lange Reise zurückblicken, die selbst jetzt immer noch nicht ihr Ende gefunden hat. Es war und wird immer noch ein mühsames Unterfangen sein, wechselnd zwischen euphorischen und frustrierten Reaktionen. Doch wenn man so weit kommt, dass man über die paar (und sicher noch zukünftigen) Stolperer hinwegsehen kann, da sich alles zu einem so stimmigen Gesamtergebnis zusammenfügt, dann zeugt das von der Arbeit eines Meisters. One Piece ist nicht perfekt, aber weiß dennoch mit seiner Ambition und unvergleichlichem Worldbuilding einen neuen Standard in environmental Storytelling zu setzen, die nahezu alles in den Schatten stellt. Eine Zelebrierung der bodenlosen Fantasie eines Kindes gepaart mit der kalkulierenden Reife eines Architekten. Da bin ich gerne für weitere 1000 Episoden an Bord.

                  6
                  • 5 .5
                    Chloe.Price 22.07.2023, 17:17 Geändert 22.07.2023, 17:19

                    Dr. Oppenheimer oder wie ich lernte, die Nolan-Formel zu fürchten

                    In letzter Zeit ist es fast schon zum Klischee geworden, den guten Christopher zu diskreditieren. Schon sein letzter Film TENET hatte es langsam geschafft, sein treues Publikum zu spalten. Hatte er es verdient, auf so ein hohes Podest gestellt zu werden? Meines Erachtens schon. Was immer man ihm auch vorwerfen mag, man kann nicht leugnen, dass dieser Mann mit dem Medium zu arbeiten weiß. Egal wie wichtigtuerisch seine Dialoge und pseudokomplexen Inhalte gewesen sein mögen, so schaffte er es doch immer wieder, sie mit audiovisuellen Experimenten zu kompensieren, die Bilder erschufen, die uns bis heute noch ins Gedächtnis eingebrannt sind. Mit OPPENHEIMER hätte Nolan die Chance gehabt, seinen vielleicht menschlichsten Film abzuliefern. Ein intimer Einblick in den Geist eines Mannes, der den Frieden mit Blut und Wissenschaft eingeleitet hat. Doch bis auf wenige Szenen im letzten Akt bleibt uns diese introspektive Inszenierung größtenteils verwehrt und macht aus OPPENHEIMER den Nolan-Film, der sein Medium am wenigsten ausnutzt.

                    Auch wenn der Film nicht in dieselben Fettnäpfchen wie andere uninspirierte Biopics tritt, gelingt es ihm leider auch nicht, sich allzu sehr von ihnen abzuheben. Einer Checkliste entsprechend springt man im Minutentakt von Ort zu Ort ohne ein Gefühl für die Umgebung, die Bilder oder die Charaktere zu kriegen. Der Film traut sich (oder seinem Publikum) nicht, auch nur für einen kurzen Augenblick Luft zu holen, was in anderen Filmen vielleicht funktionieren mag, aber hier der Seherfahrung gehörig in den Fuß schießt. Mit laut donnernder Musik, schnellem Editing und ununterbrochenen Dialogwasserfällen wird versucht, dem Zuschauer ein Gefühl von Spannung rauszukitzeln, während man Oppenheimers Leben mitverfolgt, doch wird das auf Dauer anstrengend, da der Film dann in nur einem Tempo erzählt wird statt von langsameren Momenten zu schnelleren zu wechseln. Selbst kleine persönliche Augenblicke, wie wo Oppenheimers Frau ins Glas schaut, werden oberflächlich behandelt, nur um dann wieder Raum für den nächsten überlangen Monolog zu lassen, der wichtiger klingen will, als er eigentlich ist. Man hat den Eindruck, als wären jede Person und jedes Ereignis auf der Leinwand ein Haufen Computercode, die sich wie ein Zahnrad in einem Getriebe integrieren, aber keinen Platz für irgendwelche Nuancen lassen:
                    <h1>Oppenheimer.exe</h1>
                    <div class="BringtBaby">
                    <h2>1. Freund.exe</h2>
                    <ol>
                    Es ist, als würde man für drei Stunden einen Metronom dabei beobachten, wie es hin und herpendelt. Nie wird allzu lang auf einen Gedanken, ein Gefühl gehalten, um diese artifiziell erzeugte, spannende Inszenierung auszubalancieren.

                    Erst gegen Ende wird dann endlich die Bremse gezogen, um die drückenden Schuldgefühle von Oppenheimer einzufangen. Besonders lobenswert und clever ist es, dass wir als Zuschauer den Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki nicht zu sehen bekommen, sondern stattdessen in der Haut der Wissenschaftler stecken und uns dann die Information nachträglich zugeteilt wird, dass abertausende Leben ausgelöscht wurden. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Abwurf der Bombe plakativ in Szene zu setzen, sei es mit einer weinenden Familie, die langsam zu Asche zerfällt oder so, doch Nolan hält sich da glücklicherweise zurück und überlässt es unserer eigenen Fantasie. Daumen hoch dafür. Es ist nur bedauerlich, dass der Film dann kurz danach aufs Ende zuläuft.

                    Denn genau da bekommt man nur einen kleinen Vorgeschmack auf die inszenatorische Brillanz der versprochenen, zwischenmenschlichen Nuancen, wenn unser Protagonist in seinem “stolzesten” Augenblick den Jubel und Applaus eines feiernden Publikums ausblendet und wir nur das Rücken von Stühlen und das Trampeln von Schuhen zu hören kriegen, während der Raum in blendend hellem Licht getaucht wird. Ich wünschte, der Rest des Films hätte auch nur ansatzweise so viel Kreativität und Menschlichkeit wie in diesen wenigen Minuten. Das kann selbst Cillian Murphys großartiges Schauspiel nicht retten, wenn man schon hinter der Kamera die Humanität und persönliche Note vermisst.
                    Es heißt, Nolan wäre mehr ein Mathematiker als ein Künstler. Ein Vorwurf, dem ich lange nicht zugestimmt habe, aber der jetzt wie eine düstere Vorhersage wirkt, wenn er als Regisseur das aus den Augen lässt, was einen Künstler definiert.

                    12
                    • 9

                      VINLAND SAGA STAFFEL 2: 10/10

                      Was treibt uns immer wieder dazu an, in die Vergangenheit zu blicken?
                      All die verschiedenen Zeitalter unter die Lupe zu nehmen, die die Welt, in der wir jetzt leben, geformt haben, sei es zum Besseren oder zum Schlechteren? Womöglich Wissbegierde, aber auch der Reflektion wegen, nämlich unserer Entwicklung als menschliche Spezies. Wo wir über unsere Naivität und Fehler reminiszieren, die selbst heute ihre hässliche Fratze zeigen, ganz egal wie viel weiser und klüger wir auch geworden sein mögen. So sehr wir auch mit unserer Gesellschaftsordnung, unseren Regeln und unserer Scheinheiligkeit den Eindruck erwecken, dass wir uns unserer primitiven Wurzeln entledigt haben, erleben wir doch Tag um Tag reichlich grausame Akte der Gewalt aus aller Welt wie noch vor tausenden Jahren. Konflikte scheinen in unserer Natur verankert zu sein, werden sogar vielerorts mit tosendem Beifall zelebriert, ganz egal, wie weit wir uns als Gesellschaft entwickeln. Zeit mag Wunden heilen, doch es scheint, als ob wir dazu bestimmt wären, dieselben Fehler zu wiederholen. Doch muss das wirklich sein?

                      So sehr wir uns auch einreden mögen, für den Frieden zu stehen, so hat doch jeder von uns seine eigene Vorstellung davon, wie der eingeleitet werden kann, oftmals mit voreingenommenen Lösungen, die sich durch äußere Einflüsse ergeben haben, sei es Kultur, familiäre Wertvorstellungen, Propaganda, Rollenbilder oder schlicht und einfach die Medien, die wir konsumieren. Wir alle sind der Hauptcharakter unserer eigenen Geschichte, wodurch wir aufgrund unserer eigenen Gerechtigkeitsdefinition die Leute zum Feind machen, die sich uns in den Weg stellen oder eine andere Lebensphilosophie haben. Genau aus diesem Grund stillen wir unseren Durst nach solchen Heldensagen, indem wir fiktive Geschichten präsentiert bekommen, wo genau diese üblen, gesichtslosen Widersacher durch einen strahlenden Helden zur Rechenschaft gezogen werden. Viel zu lange ruhten wir uns auf dieser Wahrheit aus, dass Gewalt mit Gewalt begegnet werden sollte und wie notwendig es sei, den Boden mit dem Blut des Feindes zu tränken. Doch setzt Makoto Yukimura mit VINLAND SAGA dieser Philosophie einen Strich durch die Rechnung.

                      Auch wenn es zuhauf Antikriegsbotschaften in unserer Filmkultur zu finden gibt, waren wenige so nuanciert und radikal wie die Geschichte des ehemaligen Wikingers Thorfinn, der als junger Sklave einen Schwur ablegt, das Kriegsbeil ein für alle Mal zu begraben. Eine Vorlage, die viele Autoren nutzen würden, damit der Protagonist lernt, dass er was finden muss, wofür es sich zu kämpfen “lohnt”, jedoch geht Yukimura in die entgegengesetzte Richtung und erschafft mit Thorfinn einen Charakter, dessen Lebensziel nicht mit Gewalt zu erreichen ist, sondern indem er Wege drumherum findet. In unserem popkulturellen Zeitgeist waren schon viele Werke, die scheinbar die Grausamkeit des Kriegs und des endlosen Tötens betonen wollen, mit einer gewissen Doppelmoral durchzogen, wenn sie scheinbar für Frieden plädieren wollen, aber dann doch eine gewisse Form von Gewalt als gerechtfertigt, sogar notwendig propagieren. Solange es unsere sogenannten moralisch korrekten Helden ausführen, deren Gräueltaten mit Fanfarenmusik untermalt werden, müssen wir als Zuschauer keine Schuldgefühle empfinden und zusätzlich bekommen wir dann doch noch die pathosgeladene Actionsause, die das blutlechzende Biest in uns zufriedenstellt. VINLAND SAGA hingegen bleibt seiner Philosophie konsequent treu, ist aber auch keineswegs naiv, wenn es um den Umgang seiner pazifistischen Botschaft geht.

                      Wie viel leichter es doch wäre, wenn man alle Konflikte dieser Welt mit Worten und Empathie regeln könnte. Die Serie macht keinen Hehl daraus, dass Thorfinns friedvolles Unterfangen, die Welt von Kriegen und Sklaverei zu befreien, eine Sache der Unmöglichkeit ist, wenn man bedenkt, was für unmenschliche Akte der Barbarei im nächsten Jahrtausend folgen werden. Es wird nicht so laufen, dass alle ihre Waffen zu Boden werfen werden und die Welt dann endlich von diesem Teufelskreis der Gewalt befreit sein wird. Aber nur weil es eine größere Herausforderung darstellt, ist es keine Ausrede, dass man nicht in Betracht ziehen sollte, nach Alternativen zu suchen, die nicht damit enden, dass man seinem Gegenüber Schaden zufügt. Und genau auf diesem Fundament baut Staffel 2 (auch allgemein bekannt als die “Farmland” bzw. die "Sklaven"-Arc) all ihre Konflikte auf. Jeder Charakter, jeder Handlungsbogen, jede Szene ist um dieses Leitmotiv vernetzt, was für ein luftdichtes Gesamtpaket sorgt, wo sich alle Einzelteile in ihren erzählerischer, thematischen und audiovisuellen Ausdrucksform hervorragend ergänzen. SPOILER folgen!

                      Doch bevor sich unser Protagonist um die externen Probleme kümmern kann, müssen erstmal die internen behandelt werden. Verkörperte Thorfinn in Staffel 1 noch die Subversion der Heldenreise, den Racheplot mit eingeschlossen, die dann umso mehr auf den Kopf gestellt wurde, indem man den scheinbaren Antagonisten zum neuen Protagonisten der Geschichte ernannt hatte, darf er nun endlich wieder im Rampenlicht stehen und seinen eigenen Weg gehen. Jedoch ist der jähzornige, kaltherzige Junge nur noch ein Schatten seiner Selbst, jetzt wo er ohne Ziel und Bestimmung über die grüne Erde wandert, keineswegs darüber aufgebracht, dass ihm seine Freiheit genommen und ihm jahrelange Farmarbeit aufgehalst wurde. Aus brennendem Hass wurde Gleichgültigkeit. Jede Emotion erstickt, sodass nur eine leere Hülle übrig bleibt, die keine Ahnung hat, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Deswegen liegt es an dem neuen Ensemble, diese Leere in unserem Helden wieder zu füllen. Diese Rolle erfüllt u.a. Einar, der genau wie unser Protagonist seine Familie verloren hat und als Sklave verkauft wurde. Ihre ideologischen Debatten sowie ihre aufkeimende Freundschaft sind das Herz dieser Geschichte und es ist beeindruckend, mit anzusehen, wie natürlich dieser Prozess vor sich geht, besonders wenn darauf fokussiert wird, was für einen Einfluss er auf Thorfinn hat. Mit nahezu jeder Episode spürt man, wie neues Leben in ihm geweckt wird. Sei es Dank auszudrücken, Interesse am Herstellen von Brot zu zeigen oder über seine Zukunft nachzudenken. Als sich dann nach zehn Episoden zum ersten Mal ein breites Lächeln auf dem Gesicht unseres Helden breit gemacht hat, stand ich den Tränen nahe und konnte nicht fassen, wie man mit so minimalistischen Mitteln eine so glaubhafte Charakterentwicklung zustande bringen konnte. Und es hört hier nicht auf.

                      Wo in den meisten Geschichten den Nebencharakteren kaum erlaubt wird, zu viel Zeit von den Hauptcharakteren wegzunehmen, stehen hier alle auf Augenhöhe und dürfen mehrmals der Protagonist ihrer eigenen Geschichte sein, auch wenn man sie anfangs noch für eindimensional oder unbedeutend halten möge. Wie auch in Staffel 1 hält uns VINLAND SAGA nicht bei der Hand, wenn es darum geht, was wir von den verschiedenen Individuen und Beziehungen halten sollen. Hat es Yukimura noch geschafft, einer toxischen Dynamik zwischen Rächer und Mörder eine väterliche Dynamik auf die subtilste Art rauszulocken, legt er hier eine Schippe drauf und entwickelt die Charaktere auf eine Weise, die unsere Erwartungen über den Haufen werfen. War noch Prinz Knut anfangs bestimmt, der auserwählte, rechte König zu sein, wird in dieser Staffel diese naive Fantasie völlig dekonstruiert um Platz für eine nuancierte Auseinandersetzung über Gottesfrevel zu machen und über die Längen, die ein König gehen würde, um die Welt zu dem Paradies zu gestalten, wie es in der heiligen Schrift steht. Die Grenzen zwischen Gut und Böse waren selten so verschwommen. Dieses Gefühl wird auch vom Rest des Ensembles eingefangen. Aufgrund seiner Position als Sklavenhändler erwarten wir von Ketil das Schlimmste, nur um dann von der sanften, verängstigten Seele hinter der harten Fassade überrascht zu werden, die niemandem schaden will. Doch als er dann völlig unerwartet etwas unbeschreiblich Unverzeihliches tut, wissen wir dann nicht mehr, auf wessen Seite wir stehen, wenn der König vorhat, seine Farm einzunehmen. Auch ein Charakter wie Snake mag anfangs cool und entspannt wirken, bis er dann für eine Weile eine antagonistische Rolle einnimmt, nur um dann später der einzige rational denkende Mann auf dem Schlachtfeld zu sein. Selbst Witzfiguren wie der inkompetente Möchtegern-Krieger Ormal durchlebt eine dynamische Charakterentwicklung, die nicht damit endet, dass er seinen “Mut” findet und ein “echter Krieger” wird, sondern indem er vernünftige, empathische Entscheidungen trifft, die komplett gegen die ach so kostbare Ehre eines nordischen Mannes gehen. Was uns zum nächsten Punkt bringt:

                      Wenn man die Themen von VINLAND SAGA in wenigen Stichpunkten zusammenfassen würde, stünde Kritik an Kriegsmentalität, toxische Männlichkeit und die Dekonstruktion dessen, was einen Helden, Mut oder Ehre definiert, an vorderster Stelle. Das macht es umso interessanter, wenn die Geschichte in einer Ära spielt, wo dieses frevelhafte Verhalten nicht nur an der Tagesordnung war, sondern von vielen Seiten gelobt wurde. Und trotzdem schafft es Yukimura mit seiner Botschaft viel moderner rüberzukommen als andere Anime/Manga (oder sogar einige westliche Produktionen). Nie schießt er sich selbst in den Fuß, indem er seine Zuschauer mit hirnlosen Spektakel zumüllt. Nein, wie schon von vielen Seiten “kritisiert” wurde, wird das Farmleben den Actionszenen vorgezogen und wenn es mal dazu kommt, dass Schwerter gezogen werden, sind die Kämpfe nicht schön anzusehen. Statt des gewohnten Pathos ähneln diese Szenen mehr einem Horrorfilm. Nichts wurde erreicht, niemand ist weiser oder stärker geworden. Es ist nur sinnloses Blutvergießen und dieses Gefühl lässt einen während der ganzen Reise nicht los. Deswegen ist es ziemlich ironisch, wenn man die Reaktionen mancher Zuschauer unter die Lupe nimmt, besonders im Bezug auf Thorfinn, der sich weigert, jemals wieder einen Menschen zu verletzen und sei es auch nur mit den Fäusten. Vielen Leuten zufolge wäre er ein “unmännlicher Langweiler” geworden, der endlich mal wieder jemanden verprügeln sollte. Es ist, als hätte Yukimura seinem Publikum einen Spiegel vorgehalten, da diese primitive Mentalität die der Wikinger vor tausend Jahren gleicht und zeigt, wie wenig wir als Spezies vorangekommen sind. Kein einziges Mal lässt die Geschichte von ihrer Botschaft für einen kurzen “epischen” Hurra-Moment ab, sondern erschafft stattdessen ihre eigene Definition davon, was einen wahren Krieger ausmacht.

                      Statt mit einer in der Unterzahl stehenden Armee “ehrenhaft” in den Tod zu stürzen, wird Kapitulation als der rechte Weg gesehen, um weiteres Leid und Sterben zu vermeiden, auch wenn man durch seine Position als nordischer Mann von allen Seiten unter Druck gesetzt wird. Den Mut zu haben, Beleidigungen über sich ergehen zu lassen, statt des Stolzes wegen die Schwerter zu kreuzen. Und stark genug zu sein, Ungerechtigkeit nicht mit mehr Ungerechtigkeit zu begegnen. Die Art von Menschen, die in der Popkultur sonst immer wieder als erbärmliche Feiglinge oder unmännliche Weicheier hingestellt wurden, sind hier die wahren Helden der Geschichte, während die in den Medien so gefeierten, kampfbesessenen Recken für ihre inhumane, gewaltverherrlichende Weltsicht kritisiert werden, ohne dass man sie alle völlig dämonisiert. Als der vom Krieg gezeichnete Ehemann Gardar in seinen letzten Momenten mit seiner Frau Arnheid vereint wird und Reue zeigt, dass er sie für einen Kampf verlassen hat, der niemandem im Nachhinein geholfen hat, ist das einer der rührendsten Momente dieser Staffel. Denn wenn diese Geschichte eines ausdrücken will, dann dass es nie zu spät ist, aus dem tiefen Abgrund zu klettern, so oft er uns auch runterziehen mag. Ein besserer Mensch zu werden, egal, was unsere Vergangenheit über uns aussagt. Es ist deshalb kein Wunder, dass Thorfinn in seinem stolzesten Augenblick einen Pflug statt eines Schwerts in seinen Händen hält.

                      VINLAND SAGA STAFFEL 2 ist im Vergleich zu seiner Konkurrenz kein opulentes Lichtfeuerwerk, das seine Zuschauer blenden soll, sondern strahlt als minimalistische, intime Charakterstudie mit viel philosophischer Tiefe, die den Mut hat, sich nicht den Erwartungen ihres Publikums zu beugen und sie stattdessen mit einer Wahrheit zu konfrontieren, die ihren inneren Gremlin auf die Probe stellt. Nie erreicht die Serie das mit plumper Religions- oder Naturesoterik (es ist schon ausschlaggebend, dass das einzige gesprochene Gebet mehr wie Slapstick als ein emotionaler Moment rüberkommt), sondern indem sie Fragen stellt, die trotz ihres Mittelalter-Milieus noch 1000 Jahre später relevant sind.
                      Weshalb blicken wir also in die Vergangenheit zurück? Damit wir die Zukunft zu einem besseren Ort machen können.

                      8
                      • 2

                        Kennt ihr diese Filme, die ihr früher ins Herz geschlossen habt, aber dann im Laufe der Zeit ihren Glanz verloren haben? Wenn man noch jung und unerfahren ist, lässt man sich sehr leicht von seinen Emotionen lenken, wenn es darum geht, ein Werk zu beurteilen und ich gehörte definitiv dazu. Bei mir sind die Dämme schon einige Male gebrochen, weswegen ich solche Reaktionen immer mit guter Filmemacherei assoziiert habe. Wenn man dann aber irgendwann den Puppenspieler hinter dem Vorhang sieht und wie er auf Teufelkommraus an jedem einzelnen Faden zerrt, damit wir Zuschauer entsprechend reagieren, ohne dass uns selbst überlassen wird, die Punkte zu verbinden, verschwindet dann diese naive Definition von Filmmagie.

                        THE GREEN MILE ist das Musterbeispiel schlechthin, wenn es darum geht, den Eindruck zu erwecken, emotional und tiefgründig zu sein, nur weil man eine Reaktion im Zuschauer weckt. Zwar ist es selbstverständlich, dass Filme zum Denken und Mitfühlen anregen sollen, nur bin ich dann nicht ein Künstler, wenn ich diesen Effekt mit einem süßen Katzenvideo erzeuge. Ich fange vielleicht auch an zu lachen, wenn mir jemand die Füße kitzelt, das macht die Person aber nicht gleich witzig. Und wenn man eine solche Herangehensweise mit einem sensiblen Thema wie die Todesstrafe paart, ist eine Katastrophe vorprogrammiert. Frank Darabont ist keineswegs untalentiert, aber was er hier auf die Beine stellt, ist an Frechheit kaum zu übertreffen. Für eine Geschichte, die vorzugeben scheint, die alte Definition von Gerechtigkeit in Amerika zu hinterfragen, ist sie doch sehr wählerisch, wenn es darum geht, welche Menschen unsere Empathie verdienen und welche nicht. Jedwede Ambivalenz wird aus dem Fenster geworfen für eine prätentiöse Mitleidsschmonzette, die augenscheinlich den Wert des Lebens betonen will, aber sich dann selbst in den Fuß schießt, indem sie manche Leben tatsächlich als minderwertig sieht und noch schlimmer, den Zuschauer davon überzeugen will, dass sie es verdienen, bestraft zu werden. Es fällt mir schwer, auch nur eine positive Eigenschaft zu finden, die Charaktere wie der sadistische Wächter Percy oder der wahnsinnige Insasse Bill Wharton besitzen. In jeder ihrer Szenen packt Darabont den Holzhammer raus, um sie so widerlich und hassenswert wie möglich darzustellen und verwandelt sein Publikum in genau die verbitterten Familienangehörigen, die die Exekution der Kriminellen kaum erwarten können.

                        Zu zeigen, dass es manche hoffnungslose Fälle gibt, wäre nicht mal ansatzweise so ärgerlich, wenn sie nicht im Kontrast zu den Wächtern stehen würden, an denen überhaupt nichts auszusetzen ist. Und wenn man dann einen halbwegs ambivalenten Charakter präsentiert bekommt, sind sie entweder insgeheim unschuldig oder zeigen dann so viel Reue, dass das Publikum nicht umhin kommt, sie ins Herz zu schließen. Und wenn das nicht reicht, gebt dieser Person eine süße Maus, um die sie sich kümmern kann oder zieht ihre Todesszene so dermaßen in die Länge, sodass wir selbst Zigarettenbilder in Sachen Plakativität alt aussehen lassen. Wäre es nicht viel effektiver gewesen, wenn John Coffey tatsächlich diese Verbrechen begangen hätte, damit die Moral der Geschichte ist, dass solche Taten nicht gleich mit dem Tod bestraft werden sollten? Aber nein, stattdessen wird er wortwörtlich zu einer engelsgleichen Figur, was dem Film dann eine religiöse Komponente gibt. Die Unschuldslämmer laufen auf dem Pfad der Gerechtigkeit, während die bösen Wölfe es verdienen, in den Feuern der Hölle zu brennen. Was für eine nuancierte Auseinandersetzung …

                        Das beste Kompliment, das man einem Film geben kann, ist, dass er einen zum Nachdenken gebracht hat. Doch wie soll das möglich sein, wenn die Botschaft so eindeutig ist und wir jederzeit genau wissen, wie wir uns zu fühlen haben? Jedes Mal, wenn ein esoterischer Monolog über Gut und Böse gehalten wird oder die Streicher uns alle Emotionen löffelweise füttern, wird uns nicht nur auf die Tränendrüse gedrückt, nein, sie hämmern förmlich darauf. THE GREEN MILE vertraut seinem Publikum nicht, sondern behandelt sie wie Kleinkinder und klopft sich dabei noch selbst auf die Schulter, obwohl er nur drei Stunden lang mit dem moralischen Finger gewedelt hat. Es ist kein gutes Zeichen, wenn sogar manche sogenannte “Kinderfilme” über mehr Nuancen verfügen. Wer wertvolle Zeit sparen will, sollte sich lieber ein paar PSAs angucken, auch wenn es mich nicht überraschen würde, wenn sie im Vergleich weit weniger plakativ sind. Das zu erreichen, ist schon eine Meisterleistung.

                        8
                        • 5

                          Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, einen Kommentar zu schreiben. Ohne einen auf erwachsen oder pseudo-intellektuell machen zu wollen, hatte ich mit diesem Franchise schon lange abgeschlossen und fand meinen Frieden damit, nicht jedes Marvel’sche Copy and Paste Abenteuer auf der großen Leinwand zu sehen, das sich schon vor gefühlt 7 Jahren abgenutzt hatte. Aber da meine Blütejahre auf Moviepilot eng mit dem Franchise verbunden waren, insbesondere mit James Gunns GUARDIANS OF THE GALAXY, dachte ich mir, dass sich der Kreis schließen würde, wenn ich mich mit diesem Text von diesem Teil meines Lebens verabschiede. Es geht nicht mal darum, dass man zu alt für solche Filme sein kann. Meines Erachtens ist es sogar gesund, das Kind in sich am Leben zu lassen und sich am unterhaltsamen Popcornkino zu erfreuen. Aber selbst dieses Kind verlangt zumindest künstlerische Integrität zu sehen, etwas, das dem Franchise schon eine ganze Weile gefehlt hat. Gunn war jedoch einer der wenigen, der seinen Werken einen eigenen Stempel aufdrücken konnte, eine erfrischende Note inmitten des Sees aus seelenlosen Einheitsbrei mit statischer Kinematographie und unbearbeitetem Filmmaterial, das so grau und farblos ist, wie als hätte man nie die den Farbfilm entdeckt. Auch wenn sich meine Meinung zu vielen Filmen des MCU im Laufe der Jahre eher zum Schlechteren gewandelt hat, so sehe ich selbst heute die Abenteuer der Guardians (insbesondere den zweiten Film von 2017) als nettes Sci-Fi-Kino, das sich nicht schämt, seine out of the box, manchmal albernen Einfälle vollends auszukosten, statt zu versuchen, dem Otto Normalverbraucher bloß nicht auf den Fuß zu treten.

                          Und genau diesen Vibe verspürt man in den ersten Minuten des Films, nur in entgegengesetzter Richtung. Statt des farbenfrohen, weiten Weltraums steckt man in einem klaustrophobischen Käfig mit atmosphärischer Beleuchtung und reichlich Schatten, so kontrastreich wie die Muster im Fell der kleinen Waschbären, nach denen eine ominöse, große Hand zu greifen scheint. Schon hier wird der melancholische, teils sogar verstörende Ton gesetzt, der manche Teile dieses zugegeben eher altbackenen Weltraumabenteuers ausmacht. Auch wenn dieser Film in Sachen Ästhetik und Inszenierung dem Vorgänger nicht das Wasser reichen kann, so strahlt Gunns Liebe zum Kino in den Szenen, wo er sich entscheidet, die Vorgeschichte eines Crewmitglieds in einen Body-Horrorfilm zu verwandeln. Es ist lange her, dass sich Marvel so düster und trostlos angefühlt hat, ohne dass irgendeine Pointe alles durch den Kakao zieht. Doch wird die Dunkelheit etwas ausgetrieben, indem die Freundschaft von vier verschiedenen Experimenten hinter Gittern beleuchtet wird und sich das Band zwischen ihnen trotz der unmenschlichen Umstände stärkt, obwohl uns als Zuschauer bewusst sein sollte, dass das kein gutes Ende nehmen wird. In jedem Bild spürt man Gunns Herzblut und wäre das der ganze Film gewesen, hätte ich vielleicht neue Hoffnung für das MCU gehabt.

                          Leider wird diese sehr gute Viertelstunde mit mehr als zwei Stunden von dem begraben, was wir schon gewohnt sind, was nicht mal mit einer guten Umsetzung legitimiert werden kann. An vielen Stellen hat man den Eindruck, als hätte ein B-Team übernommen, da nahezu jeder inszenatorischer Flair von Gunn fehlt und die statische Grau-in Grau Ästhetik zurückkehrt, die besonders das cinematische Fiasko Avengers: Endgame dominiert hat. Zwar gibt es eine Handvoll Augenblicke, wo man das Gefühl hat, als hätte ein echter Regisseur das Steuer übernommen, wie bei einer eindrucksvollen One Take Actionszene, die neue Standards für das MCU setzt, was die Mischung aus Kamera, Choreographie, handgemachten und visuellen Effekten angeht, aber wenn man bedenkt, dass James Handschrift im zweiten Teil fast durchgängig zu spüren war, ist diese häufig uninspirierte Umsetzung doch schon sehr schade. Es hilft auch nicht, dass der Film Probleme damit hat, alle gegebenen Elemente auszubalancieren. Auch wenn viele Ideen Potenzial für interessantes Drama gehabt hätten, ist der Film zu beschäftigt damit, von Punkt A nach B zu kommen, was die Auflösungen dann teils unverdient und artifiziell wirken lässt. Nichtsdestotrotz respektiere ich Gunn für einige dieser mutigen Entscheidungen, z.B. als er Gamorra erlaubt, (SPOILER) ihren eigenen Weg zu gehen, statt dass sie sich an ihre Kameraden erinnert und wieder zum Love Interest unseres Protagonisten wird, was ganz im Geiste des zweiten Teils ist, der unter anderem die Erwartungen eines naiven, unerfahrenen Jungen der 80er im Körper eines Erwachsenen hinterfragt hat, wenn es um die Anziehung zweier Menschen geht. (SPOILER ENDE).
                          Auch so kleine Einfälle wie, dass die Guardians sich die Mühe geben, sowohl die Menschen als auch die Tiere von einem explodierenden Raumschiff zu retten, ist etwas, das den Charme dieser Bande ausgemacht hat. Und als dann in der Schlussmontage der Song “Dog Days Are Over” lief, spürte ich doch das Kind in mir, das traurig darüber war, dass sich dieses Kapitel ein für alle Mal schließen würde. Aber hey, wie man so schön sagt, sollte man nicht trauern, dass es vorbei ist, sondern sich darüber freuen, dass es passiert ist.

                          Und freue ich mich, dass dieser Film geschehen ist? Schwierig. Als jemand, der besonders den zweiten Teil noch gut in Erinnerung hat, vereint dieser Abschluss sowohl die besten und schwächeren Seiten dieses Franchises. Aber so wie jeder Chefkoch auch Fast Food genießen darf, so kann auch jeder prätentiöse Kritiker Freude an den kleinen Dingen haben, selbst wenn es abstruse Weltraummärchen mit einem sprechenden Baum sind.

                          7
                          • 9 .5
                            über Titanic

                            Zum ersten Mal wurden meine Augen mit diesem Meisterwerk auf einer großen Leinwand gesegnet.
                            Können wir uns darauf einigen, dass der Hasshype, der diesen Film seit langer Zeit wie ein Haufen gieriger Aasgeier umgibt, einer der unsinnigsten und unberechtigsten in der Kinogeschichte ist?

                            11
                            • 6 .5

                              Shyamalan hat mich schon immer fasziniert.
                              Sowohl in seinen Höhen und Tiefen. In nahezu all seinen Werken spürt man, wie viel Herzblut dieser Mann in jeden einzelnen Frame steckt, selbst wenn das Ergebnis letzten Endes ein Fehlschlag ist. Und genau diese ansteckende Passion ist der Grund, warum ich mich immer dazu aufmache, sein nächstes Werk aufzusuchen. Denn auf viele Weisen verkörpert Shyamalan die besten und schlechtesten Seiten, die Filme mit sich bringen. Aber eines muss man ihm lassen: er weiß, wie man Regie führt.
                              Trotz manchen selbstzweckhaften Aufnahmen, die schlechte Erinnerungen an Tom Hoopers prätentiöse, pseudo-hervorstechende Bildsprache geweckt haben, stellt er in KNOCK AT THE CABIN sein inszenatorisches Talent unter Beweis, indem er einen mithilfe seiner sauber kalkulierten Bildsprache vergessen lässt, dass der Großteil der Handlung aus einem intimen Kammerspiel besteht und gar nicht erst versucht, allzu aufregend zu sein.

                              Home Invasion Thriller gibt es zuhauf, aber selten habe ich einen gesehen, der nahezu alles von der Checkliste mit hohem Bogen aus dem Fenster schmeißt, und das meine ich im besten Sinne. Ich finde es doch sehr entlarvend, dass so viele Leute den Film langweilig finden, da er sich nicht die klassischen Methoden zunutze macht, die dieses Genre auszeichnen. Statt sich wie ein Haufen gestörter Karikatur-Psychopathen zu verhalten, werden die Einbrecher angeführt von Leonard als fast genauso hilflos und verzweifelt wie unsere gefesselten Protagonisten dargestellt. Statt dass es in einem Folterporno ausartet, stehen Gedankenspiele im Vordergrund und an letzter Stelle das Verletzen der Opfer. Die Humanität, Empfindlichkeit und Empathie, die diese Spinner zum Ausdruck bringen gepaart mit ihrer absoluten Überzeugung, dass ihre Taten die Welt retten werden, ist meiner Meinung nach viel beunruhigender mit anzusehen als zehn maskierte Heinis mit Kreissägen und Blutlust - weil es sich so real anfühlt. So makaber ihr Ziel auch sein mag, kommt man als Zuschauer fast an einem Punkt, wo man sie versteht, selbst wenn man ihnen nicht zustimmt. Irgendwann gerät man sogar selbst ins Zweifeln, wenn die Grenzen zwischen Zufall und göttlicher Fügung immer mehr verschwimmen. Und dieses Spiel der Geister, das mit dem Einsatz von anamorphen Linsen auf Zelluloid gebannt wird, ist das Highlight dieser Seherfahrung. Plakative Schockmomente findet man vergeblich und wenn die Kamera sich dann immer wieder von der Gewalt wegbewegt, steht es sinnbildlich dafür, wie wenig Interesse der Film hat, sich auf diese hirnlose Form der “Unterhaltung” zu verlassen. Mit einer mehr subtilen Inszenierung hätte das sogar an Ti West erinnert, wo eine Mainstream-Horrorerfahrung unter Verschluss gehalten wird, um Platz für unkonventionell inszenierten Suspense zu machen.

                              Zu schade, dass sich der Film in den letzten Minuten selbst in den Fuß schießt, indem Shyamalan wieder in den esoterischen Apfel beißt, anstatt die ambiguöse Natur der Geschichte konsequent durchzuziehen, was im Vergleich zum Roman doch sehr frustrierend ist und für manchen vielleicht den ganzen Film ruiniert. Doch nachdem ich Shyamalan über achtzig Minuten lang von seiner besten Seite gesehen habe, lasse ich mich nur von zehn nicht die ganze Erfahrung versauern und empfehle dem Film jedem, der einen ordentlichen, toll inszenierten, minimalistischen Suspense-Thriller sehen will.
                              Aber Mann, Shyamalan, was hast du dir am Ende dabei gedacht … und genau deswegen freue ich mich schon auf deinen nächsten Film. Du wirst uns immer ein Rätsel bleiben.

                              10
                              • Genau so sollte man mit einer Adaption umgehen. Was in einem Medium funktioniert, funktioniert nicht gleich in einem anderen. Ein einstündiger Trip durch ne infizierte Stadt wäre schnell eintönig geworden, weshalb es genial ist, dass die Serie stattdessen zwei obskure Randfiguren der Geschichte vertieft und ihnen einige der tragisch-schönsten Szenen des Franchises schenkt, die die Leitmotive von The Last of Us perfekt einfangen. Wunderschön.

                                14
                                • 7 .5
                                  Chloe.Price 30.01.2023, 13:51 Geändert 30.01.2023, 14:09

                                  Episode 3 "Long Long Time"

                                  Normalerweise schreibe ich keine Episodenreviews und ich werde es auch zu keiner Gewohnheit machen, aber wenn mich dann etwas so positiv überrascht, dass ich nicht in der Lage bin, all meine Begeisterung zu kontrollieren, dann sehe ich keinen anderen Ausweg, als eine Ausnahme zu machen. Vor allem geht es hier nicht spezifisch um die Qualität der Episode, sondern um das Thema Adaption. Anstatt dass diese Serie jeden Plotpoint des Videospiels wie eine Checkliste abhakt, um möglichst viele alte Fans anzubiedern, gehen die Autoren ein Risiko ein und geben einem Abschnitt, der im Kontext des Spiels nicht viel mehr als ein kleiner Stolperstein auf einer langen Reise war, so viel mehr Tiefe, das es auf einer Höhe mit den besten Momenten des Spiels ist.

                                  Was einst eine simple Suche nach einem Auto in einer infizierten Stadt war, wurde zu einer für sich selbst stehenden Liebesgeschichte zwischen zwei Männern in einem Haus abgeändert. Ein Plädoyer, was es heißt, zu überleben und wirklich zu leben. Wie Einsamkeit einen vor dem Schmerz von Verlust bewahren mag, aber einen davon abhält, wahres Glück zu finden. Action wird auf ein Minimum gesetzt und Charakterentwicklung liegt im Vordergrund. Und die Krönung von allem ist ein Ende, das jedermanns Erwartungen in Stücke reißt, der glaubt nach dem Spiel gewusst zu haben, in welche Richtung sich das entwickeln würde. Unglaublich mutig und eine der besten Änderungen, die ich in einer Adaption gesehen habe. So sehr ich auch die Crew hinter der Serie respektiere, war ich mir erst nicht sicher, ob es wirklich notwendig war, die Geschichte von Joel und Ellie nochmal zu erleben, aber jetzt da ich sehe, wie einwandfrei sie den Übergang zu einem anderen Medium gemeistert haben, bin ich an Bord.

                                  Frank & Bill - zwei obskure Nebencharaktere im Spiel, an die sich die wenigsten erinnern können, jetzt als das vielleicht schönste Liebespaar in der Zombieapokalypse verewigt. ♥

                                  26
                                  • Gerade wo man denkt, dass die Goldenen Himbeeren nicht tiefer sinken könnten, schaffen sie es sogar meine nicht existierenden Erwartungen zu unterbieten.
                                    Dass überhaupt in Betracht gezogen wurde, Andrew Dominik als Schlechtester Regisseur zu nominieren, ist ein größerer Witz als es die Show ohnehin schon ist.

                                    11
                                    • 10

                                      Nicht mal zwei Episoden vergangen und ich weiß jetzt schon, dass mich ein Meisterwerk erwartet. Manche Fans mögen meckern, dass sich die Serie in ein minimalistisches Charakterdrama auf einer Farm mit wenig Action verwandelt hat, aber wer sich der wahren Stärken der ersten Staffel bewusst ist, der bekommt sie alle wieder, reifer denn je, dazu noch geschmückt mit zahlreichen philosophischen Ansätzen.
                                      Animation ist kein Genre, sondern ein Stilmittel, eine Kunstform, und ist genau wie Realfilme in der Lage, erwachsene Geschichten zu erzählen.

                                      5
                                      • 9
                                        Chloe.Price 18.11.2022, 11:51 Geändert 18.11.2022, 12:01
                                        über Gintama

                                        GINTAMA ist ein Wunder – das meine ich keineswegs im pathetischen Sinne, es ist mein voller Ernst. Die bloße Existenz dieser Serie ist schlicht und einfach kaum vorstellbar. Warum? Weil sie nicht funktionieren sollte. Wirft man einen Blick auf die Prämisse, mag es den Anschein haben, dass diese Geschichte zum Scheitern verurteilt ist. Besonders wenn man sie mit ihrer Konkurrenz vergleicht, die den Markt dominiert. Alles was diese Serien so erfolgreich macht, ist in GINTAMA nicht vorhanden. Statt großen Abenteuern zieht Hideaki Sorachi episodische Comedy vor. Anstelle eines charismatischen, kampflustigen Helden haben wir einen sarkastischen, albernen Tagelöhner im Samurai-Outfit mit einer Vorliebe für Shōnen-Jump und Schokoladen-Parfaits, der so gut es geht, Konfrontationen meidet. Spannende Kämpfe werden mit Mini-Jobs ersetzt, die ihm dabei verhelfen, seine Miete zu bezahlen. Anstatt dass die Serie ihre Länge von über 300 Episoden damit rechtfertigt, dass wir konstant mit Plot beworfen werden, springt die Serie einfach von einem Plotpoint zum anderen, die oftmals kein Bindeglied haben und man kann sich glücklich schätzen, wenn man alle 40 bis 50 Episoden einen Blick auf den versteckten, roten Faden von GINTAMA erhaschen kann. Und zu allem Überfluss parodiert die Serie ihr eigenes Genre und wirft im Minutentakt mit Metahumor und Popkulturreferenzen um sich herum, obwohl sie trotz allem versucht, diese verschiedenen Töne mit einer seriösen Geschichte zu verschmelzen. Auf Papier klingt das wie als hätte man alle Maßnahmen getroffen, um für eine garantierte Bruchlandung zu sorgen, denn wie soll ein solch unfokussiertes, spannungsarmes, tonal schizophrenes Konzept bitte funktionieren? Und das ist genau was GINTAMA so genial macht. Es klappt. Ich weiß nicht wie sie das hingekriegt haben, aber es klappt. Und das ist eine unglaubliche Leistung.

                                        Ich könnte hier schon aufhören, aber vielleicht sollte ich auch darauf eingehen, wie clever diese Serie allen Fettnäpfchen ausweicht, die sie sich selbst in den Weg gestellt hat. Wobei es darauf ankommt, ob die Zuschauer die Geduld aufbringen können, sich der erst banal erscheinenden Prämisse zu beugen, da man sich für eine lange Zeit kein Bild davon machen kann, worum es hier überhaupt geht. Im Vergleich zu so vielen anderen Serien (nicht nur Anime) hat GINTAMA keinen klassischen „Hook“. Niemand will hier der König der Piraten werden, seine Schwester von einem Fluch befreien oder der mächtigste Irgendwas sein. Selbst die Charaktere versuchen gar nicht erst zu verstecken, dass das was sie tun, nicht allzu aufregend ist, zumindest aus den Augen des klassischen Shōnen-Konsumenten. Aber das nutzt die Serie zu ihrem Vorteil aus. Statt dass Sorachi in den ersten Episoden unglaubliche Erwartungen in uns weckt, die aber dann oftmals in ihrer Umsetzung was zu wünschen übrig lassen und der interessanten Prämisse nicht gerecht werden, lullt er uns in die recht „gewöhnlichen“ Leben der Bewohner von Edo ein und gibt der Geschichte mit der Zeit immer mehr Dimensionen statt sich in purer Verzweiflung einem viel zu hoch gesetztem Ziel zu krümmen und zu biegen, bis er daran bricht. Dabei ist es nicht mal so, dass er planlos vorgeht und sich völlig spontan entscheidet, mehr Tiefe einzubauen, wenn es ihm passt. In den ersten zig Episoden wird die Saat für so viele kommende Konflikte und Twists in den nächsten hunderten Episoden gepflanzt, die dann im Hintergrund immer weiter wächst, bis dass ihr erlaubt wird, zu blühen und wir als Zuschauer zurückblicken und staunen können, wie natürlich dieser Prozess vor sich ging – was bei einer so spontanen Serie wie GINTAMA wirklich erstaunlich ist. So absurd wie es hier manchmal zugehen kann, würde man nie darauf kommen, dass die Serie in der Lage wäre, das alles mit gutem Drama zu verpacken. Diese Kombination mag zwar jetzt nicht ungewohnt sein, aber wenn man an jeder Ecke Genitalhumor zu hören kriegt, mehr rektale Penetrationen als in einem FSK 18 Yaoi zu sehen bekommt kombiniert mit rappenden Rebellenanführern und Gorilla-Hochzeiten, sprengt man da wirklich den Rahmen, was für normale Zuschauer als tolerables Tonebalancing gilt. Und dennoch: ich kann nur an einer Hand abzählen, wie viele Serien (nicht nur Animes) mich so ergriffen haben wie GINTAMA.

                                        Es braucht Talent, urkomische Szenen mit emotionalen Momenten auszubalancieren, aber Sorachi meistert es wie nur wenige vor und nach ihm. Wenige Minuten nachdem sich unsere Helden als übergroße Dildos verkleidet haben, kann es zu der schockierenden Exekution eines beliebten Charakters kommen und es fühlt sich keineswegs deplatziert an. Man möge meinen, dass alberne Comedy dem Drama sein Momentum berauben würde, aber GINTAMA’s Philosophie beweist das Gegenteil, ganz im Geiste von Yin und Yang, wo sich die polar einander entgegengesetzten und dennoch aufeinander bezogenen dualen Kräfte sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen. Wer sich entscheidet, ausschließlich die seriösen Arcs der Serie anzuschauen, um das „wahre Gintama“ zu erleben, macht einen großen Fehler. Während in vielen anderen Serien die Comedy-Episoden eher als substanzloser Filler gesehen werden würden, ist sie hier Teil ihrer Identität. Ihre Aufgabe ist es nicht nur, uns zum Lachen zu bringen, sondern uns dabei zu helfen, mit einem der besten Attribute dieser Serie anzuknüpfen: dem farbenfrohen Cast. Auch wenn die Spontanität und out of the box Ideen für viele der Episoden ausreichend wären, damit Langeweile vermieden wird, würde das auf Dauer nicht funktionieren, wären die Charaktere nicht auf einer Höhe mit dem Wahnsinn, der sie umgibt. Und nicht nur gelingt es Sorachi, die vielleicht verrückteste Ansammlung aus Individuen zusammenzutrommeln, er meistert auch hier weiterhin den Spagat zwischen Comedy und Drama, indem er sie trotz ihrer urkomischen, debilen Attribute unglaublich menschlich macht, ganz im Geiste der sich ergänzenden Dualität der Serie.

                                        Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass mir nur wenige Figurenkonstellationen untergekommen sind, die auch nur ansatzweise so glaubhaft und „real“ wirken wie die von Sakata Gintoki und Co. Selbst in Serien, die sich durchgängig ernst nehmen und sich alle möglichen tiefgründigen, „menschlichen“ Konflikte aus den Fingern saugen, wird man das Gefühl nicht los, dass dies eine idealisierte, fiktive Darstellung ist. GINTAMA funktioniert genau andersrum, indem dieser schräge Haufen so bodenständig wie möglich gemacht wird, ganz gleich wie karikaturesk sie rüberkommen mögen. Es spielt keine Rolle, ob man ein Meister der Schwertkunst, ein übermenschlich starkes Wesen oder eine tragische Figur ist: Jeder ist in den Augen des Hideaki Sorachi ebenbürtig, da er jedem einzelnen Attribute, Hobbys und Verhaltensweisen zuordnet, die man in anderen Inkarnationen nie sehen würde. Diese Form der Humanisierung durch schrullige Eigenheiten mag zwar auch außerhalb von GINTAMA existieren, jedoch ist hier der Umgang bei Weitem nicht so oberflächlich, da sich die Serie traut, selbst seine coolsten Charaktere zu blamieren oder in Situationen zu bringen, die ihrem Archetyp sonst zu unwürdig wären. Ich kann nur an einer Hand, nein, an einem Finger abzählen wie viele Protagonisten etwas ansatzweise so Demütigendes passieren kann, wie dass ein magisches Schwert sich in deren Hintern heimelig macht … und man sie dennoch als Charakter ernst nehmen kann. Man mag der Anführer und Lebensretter einer gesetzlichen Division sein, das ändert nichts daran, dass man im sozialen Umgang vielleicht ne totale Katastrophe ist und Stalking als ein angebrachter Ausdruck seiner Gefühle sieht, ganz egal, wie oft die Frau einen grün und blau schlägt. Man mag als stark trainierter Ninja kompetent sein, wenn es darum geht, lebensgefährliche Missionen auszuführen, das verhindert aber nicht, dass man den Alltag ohne eine Brille oder Hämorrhoidencreme durchsteht. Selbst wenn sich eine Episode gefühlt um gar nichts dreht, reichen die Interaktionen zwischen diesen ulkigen Figuren völlig aus, um für gute Unterhaltung zu sorgen, da man mit Spannung entgegensieht, was für Missgeschicke durch eine gewisse Kombination aus Charakteren nach sich gezogen werden. Sei es Katsuras verpeilte Natur, Otaes passiv-aggressive (und manchmal direkt aggressive) Tendenzen; Okita Sougos sadistische Ader, wenn es darum geht, Hijitakas Leben zur Hölle zu machen; Hasegawas Pechsträhne als arbeitsloser Verlierer, Sachans Obsession mit BDSM; Shinpachis Frustration, wenn es als seine Rolle als Straight Man darum geht, all den Blödsinn um sich herum zu erdulden, … und das ist nicht mal die Spitze des Eisbergs. Es hilft auch enorm, dass viele dieser scheinbar „unwichtigen“ Episoden andauernd mit ihren kreativen Einfällen für frischen Wind sorgen, z.B. wenn alle Charaktere sich aufgrund einer in unserer echten Welt entstandenen Popularitätsumfrage gegenseitig demütigen bzw. den Ruf der anderen schaden (und sogar zu den Waffen greifen), damit sie in den Augen der Fans zur Nummer 1 aufsteigen. Das wäre an sich schon witzig genug, aber der Anime legt noch eine Schippe drauf, indem die jeweilige Nummer der Platzierung von jedem Charakter ständig über ihren Köpfen schwebt und sich die Zahl mit jedem Gewinn oder Verlust verändert. Manchmal geht die Serie sogar so weit, alle Regeln der herkömmlichen Inszenierung aus dem Fenster zu werfen, indem wir zum Beispiel eine ganze Episode lang eine fixierte, statische Aufnahme auf einem arbeitenden Ramenkoch vorgelegt bekommen, während aus dem Off die familiären Stimmen unserer Helden zu hören sind, die das Lokal betreten und unser Kopfkino die Lücken füllt, da wir sie alle mit der Zeit in- und auswendig kennengelernt haben. Wer sich entscheidet, das alles zu überspringen um endlich zum seriösen Kram zu kommen, verpasst meiner Meinung nach vieles, dass die Serie so besonders macht. Denn wenn dann diese Gruppe aus Komikern endlich in den sauren Apfel beißen muss und echtes Leid erfährt, trifft es einen als Zuschauer deutlich härter und man sehnt die Zeiten zurück, wo man gemeinsam mit ihnen lachen konnte. Das ist das Genie von GINTAMA.

                                        Wenn dann die Zeit gekommen ist, die Geschichte in eine seriöse Richtung zu lenken, kommt es nie aus dem Nirgendwo, sondern ist das Resultat eines Dominoeffekts, der oftmals von scheinbar unwichtigen Ereignissen aus Comedy-Episoden eingeleitet wurde. Sorachi beweist dadurch sein Talent als Autor, indem er alle Teile geschickt zusammensetzt und beweist, dass Gintama mehr zu bieten hat, als einfallsreichen Humor. Im Vergleich zum Marvel Cinematic Universe, wo gefühlt jede dramatische Szene mit selbstironischem Blödelhumor ruiniert werden muss, weiß die Serie, wann es an der Zeit ist, einen Gang zurückzuschalten und den Herzschmerz auf sich wirken zu lassen. Das reflektiert auch die Musik. Werden noch die Titel mit RocknRoll Musik eingeleitet, kann sie in manchen Momenten zu zarten, traditionellen Shamisen-Melodien wechseln, die einem ein gutes Gefühl für die Edo-Periode und der Lebensphilosophie der Samurai gibt. Denn wenn die Serie ernst macht, scheut sie nicht, einige herzzerreißende Szenen zu inszenieren, die sich wie bei Takasugi in meine Netzhaut eingebrannt haben und mir schwer auf der Seele liegen.

                                        Und genau diese konsonante Dissonanz wird von niemandem besser verkörpert als unseren silberhaarigen Protagonisten Sakata Gintoki. Er personifiziert alles, was diese Serie so einzigartig macht. Auf dem ersten Blick macht er keinen besonderen Eindruck, wirkt lächerlich, beinahe schon langweilig. Zudem ist es auch nicht leicht, sich ein Bild von ihm zu machen. Zwar ist er mit seiner desinteressierten, zynischen Attitüde keineswegs der klassische Happy Go Lucky Shōnen-Held, aber mit seiner Weisheit und seinem Humor auch keine Dekonstruktion davon. Genau genommen ist er wie kein anderer Protagonist, den ich je gesehen habe. Aber je mehr Zeit vergeht (und nach gefühlt hundert bizarren Abenteuern), desto mehr lernt man ihn als Charakter zu verstehen und erkennt, was sich hinter diesen toten Fischaugen verbirgt. Und das obwohl er keine auffällige Veränderung durchmacht. Er bleibt derselbe Komiker mit gebrochenem Herzen, aber durchlebt trotzdem die subtilste Entwicklung, die ich in einer ganzen Weile gesehen habe. Ein Mann, dem alles genommen wurde und der wie seine Antagonisten jeden Grund hätte, die Welt zu hassen, lernt, einen neuen Lebenssinn zu finden, die ihm durch seine neuen Bekanntschaften und Erfahrungen im Laufe der Serie ermöglicht werden. Was relativ altbacken klingen mag, bekommt durch Sorachis unkonventionellen Erzählstil einen neuen Anstrich und macht aus GINTAMA ein Wechselbad der Gefühle. Obwohl die Serie alle möglichen irrsinnigen Konzepte jongliert, kommt alles perfekt zusammen, da man die Geschichte so erlebt hat wie Sorachi es vorgesehen hat. Die abwechselnden Gefühlszustände fallen ihr nie zur Last, sie SIND ihre Essenz. Ohne die Dunkelheit würde man das Licht weniger schätzen lernen. Ohne die glücklichen Momente würden die Tränen weniger schmerzen. Ohne die Harmonisierung von Humor und Drama wäre GINTAMA nicht GINTAMA.

                                        „Trying to shoulder the burden all by yourself? Don’t be such a stranger. Weep and ask for help. Lean on me with your runny nose. Cry when you feel like crying. Laugh when you feel like laughing. When you’re tearing up with an ugly face, I’ll give you a good cry with an uglier face. When you’re laughing so hard your stomach hurts, I’ll laugh in a louder voice. That’s how it should be.“
                                        Sakata Gintoki

                                        7
                                        • 9

                                          (SPOILERWARNUNG)

                                          Es ist immer spannend zurückzublicken und darüber nachzudenken, dass es einst eine Zeit gab, wo es als die größte Ehre galt, heldenhaft in einer Schlacht umzukommen. Wo Patriotismus und Märtyrertum an der Tagesordnung waren. Wo Kinder darüber fantasierten, ihrem Land zu dienen und zum ersten Mal ihre Klinge in jemandes Herz zu bohren. Was heute (zurecht) als Barbarei gesehen wird, wurde einst glorifiziert. Und dennoch: haben wir diese primitive Denkweise je wirklich hinter uns gelassen?

                                          Wenn man bedenkt, wie viele heutzutage einen Serotonin-Kick in ihrem Affenhirn kriegen, wenn ein ehrenvoller, strahlender Held einer Horde gesichtsloser Gegner zu Brei schlägt, lässt sich definitiv sagen, dass diese primitive Begeisterung immer noch ein Teil von uns ist. Der Wunsch, dass man der/die Stärkste und Beste im Raum ist und als diese/r gefeiert wird, liegt in unserer Natur, weshalb wir eskapistische Medien konsumieren, die unsere größten Fantasien wahr werden lassen. Und wenn man sich die grobe Prämisse von einer Serie wie VINLAND SAGA ansieht, scheint sie genau das Richtige zu sein, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Ein junger Wikinger sucht Rache für den Mord an seinem Vater, inszeniert von WIT Studios, das dürfte doch ein Fest der Sinne werden! Aber weit gefehlt.

                                          Schon in der ersten Szene durchzieht sich eine schwerwiegende Melancholie, wenn man den Wikinger Thors inmitten eines weiten, golden glänzenden Felds stehen sieht und er seine Frau aus der Ferne erblickt. Erfreut macht er einen Schritt nach vorne, hört ein metallisches Geräusch unter seinen Füßen und wird an die Leichen erinnert, die er zu verantworten hat, als sich sein Blick senkt. Auch wenn sein Aufenthalt in der Geschichte relativ kurz ist, da sein Ableben dazu dient, den Rachefeldzug seines Sohns, Thorfinn, in die Wege zu leiten, so ist sein Charakter der Inbegriff des Tons, den die Serie setzen will. Statt dass der mächtigste Wikinger des Nordens als tobende Actionfigur reduziert wird, weigert er sich, zu den Waffen zu greifen und folgt einem pazifistischem Kodex. Während die Nordmänner, darunter sein eigener Sohn, den Krieg kaum erwarten können, blicken Thors tote Augen ins Leere, wohlwissend, was das zu bedeuten hat. Als dann sein Körper bei einem Hinterhalt, angeführt vom Attentäter Askellad, mit unzähligen Pfeilen durchbohrt wird, bittet er seinen Sohn, dass er sich nicht aufmacht, ihn zu rächen. Aber wissend wie leicht ein Kind zu beeinflussen ist, besonders wenn es von so einer kampf- und mythenbesessenen Kultur wie die der Wikinger umgeben ist, sowie deren idealisierte Definition von Ehrenhaftigkeit, ist es kein Wunder, was als nächstes passiert. Doch so flott der Rachefeldzug in die Wege geleitet wird, so schnell wird er dann auch über den Haufen geworfen. Auch wenn die Serie sich einige Freiheiten erlaubt, wenn es um die teils übermenschliche Darstellung der Kräfte angeht, ist sie sich bewusst, dass ein unerfahrener Junge gegen einen Veteranen wie Askellad keine Chance hat. Und da Thorfinn sich aufgrund seines naiven Kriegerkodex selbst Hürden in den Weg stellt, wenn es um die Ausübung seiner Rache geht, trifft er eine Entscheidung, wie man sie in solchen Geschichten sonst nie erlebt: der Rachsüchtige tritt der Gruppe des Übeltäters bei, um ihn dann eines Tages in einem fairen Duell zu besiegen. Und somit wird die spannende Dynamik zwischen Thorfinn und Askellad eingeleitet, die auf eine ziemlich verdrehte Weise das Herz der Serie ist- Als das passierte, wusste ich schon, dass die Geschichte etwas Besonderes sein würde. Und es hört hier nicht auf.

                                          Als sich unser junger Protagonist dann endlich die Hände schmutzig macht, ist es kein Grund zum Feiern, noch wird es als eine große Leistung hingestellt, dass er einen namenlosen Soldaten umgebracht hat. Obwohl wir als Zuschauer keinen Grund hätten, ihn als was anderes als Kanonenfutter zu sehen, verharrt die Kamera auf dem kleinen Jungen, der auf der Leiche des Mannes liegt, dessen Leben er genommen hat. Beobachtet, wie das Licht in seinen Augen verschwindet. Wie der Boden mit Blut getränkt wird. Statt einem Motivationsschub kommen ihm die Tränen und seine Schreie hallen durch die sternenklare Nacht und beraubt der Szene jedwedem Heldenpathos. VINLAND SAGA entsagt sich früh genug von seiner Rachefantasie und gibt ihr einen neuen Anstrich, die weit darüber hinausgeht, dass der Protagonist am Ende realisiert, dass seine Rachegefühle ihn korrumpieren. Im Gegenteil. Als Thorfinn das Blut eines ganzen Dorfes an seinen Händen kleben hat, wird nach einem flüchtigen Reuemoment in einem einzigen Blick zum Ausdruck gebracht, dass er sich dessen bewusst ist, dass das was er tut, unmoralisch ist und er keinen Deut besser als die Mörder ist, an dessen Seite er kämpft. Der Unterschied ist nur, dass ihn das nicht bremst, weiter zu machen. Die Serie macht keinen Hehl daraus, dass der Pfad, den unser sogenannter Held einschlägt, töricht ist und offenbart in nicht mal sechs Episoden das Monster hinter der goldenen Mähne. Hiermit zementiert sie, dass es in dieser Geschichte keine Helden geben wird. Keine pathosgeladene Kriegerfantasie. Keine Absolution. Somit liegt der dramaturgische Schwerpunkt nicht darauf, ob Thorfinn seine „gerechte Rache“ kriegt oder dass er seine Fehler einsieht, nein, die Serie wechselt zu ganz anderen Konflikten und tut das Unvorhergesehene, indem sie das Zepter des Protagonisten an den Mann weitergibt, den der Junge geschworen hat, in einem ehrenhaften Kampf zu besiegen und den wahren Hauptcharakter von Staffel 1: Askellad.

                                          In vielen anderen Geschichten würden Autoren mit diesem Perspektivenwechsel die Chance ergreifen, dass wir als Zuschauer mit dem Antagonisten emotional anknüpfen und seine Motivation verstehen lernen, doch so leicht macht es einem VINLAND SAGA nicht. Immer wenn wir kurz davor sind, etwas Sympathie für diese grausame Bande zu entwickeln, werden wir an eben diese Grausamkeit erinnert, wenn sie zum Beispiel auf ihrer Reise eine Familie in der Wildnis ausbeuten, verhöhnen und in der eisigen Kälte exekutieren. Obwohl die Serie mit den Regeln der physischen Kapazität und Stärke der Wikinger als Stilmittel spielt, so ist die Handlung sehr realitätsnah und geerdet, besonders wenn es um die Darstellung der Gnadenlosigkeit der Wikinger geht. Nichts wird romantisiert oder verharmlost. Und trotz allem gelingt es der Serie letzten Endes, dass wir diese grausamen Leute ins Herz schließen, obwohl wir fast keinen Grund haben, das zu tun. Nie kommt es zu einer forciert sympathischen Geste oder einem herzerwärmenden Gespräch zwischen zwei verfeindeten Individuen. Weder werden schlechte Taten mit einer angetackerten tragischen Vorgeschichte gerechtfertigt, noch kommt es zu einer halbherzigen Wiedergutmachung. Wenn es darum geht, Empathie für diese Charaktere aufzubauen, meidet VINLAND SAGA nahezu jeden Trick aus dem Handbuch. Askellad und seine Männer werden nie wieder gut machen können, was sie getan haben und das haben sie auch nie vor. Nie vergisst die Serie ihre Wurzeln. Im Vergleich zu so vielen anderen subversiven Rachegeschichten, wo wir die Verbrechen der Übeltäter mit der Zeit nachvollziehen und sie vielleicht doch nicht so schlimm sind, wie wir einst dachten, wäre hier die Welt tatsächlich ohne sie besser dran. Warum sollten wir dann mit ihnen anknüpfen? So banal es auch klingen mag, weil selbst die schlimmsten Finger über Menschlichkeit verfügen und vielseitig sind. Niemand wird in dieser Serie auf nur ein einziges Attribut reduziert, sondern macht eine spannende Entwicklung durch, die mal äußerst auffällig oder subtil ist. Sei es der erst schüchterne Prinz Knut, der lernen muss, sich von den Ketten der Vergangenheit zu lösen und sein eigenes Vermächtnis aufzubauen oder selbst ein scheinbar hirnloser Rohling wie Thorkell, dem auch erlaubt wird, sich von seiner Mini-Boss Rolle zu befreien und zu einem echten Charakter zu werden. Und dann wäre da Thorfinn selbst, der aufgrund von seiner Obsession recht statisch rüberkommen könnte, aber hinter dessen trockener, emotionskalter Fassade viel mehr vor sich geht, als man glauben möchte. Es ist tragisch mit anzusehen, wie sein Stolz und sein Fokus auf sein Ziel ihn davon abhalten, zu akzeptieren, dass er für ein anderes Leben bestimmt sein könnte, auch wenn seine Gefühle ihm vielleicht was anderes mitteilen, wenn er langsam erkennt, dass der Mörder seines Vaters vielleicht die Lücke gefüllt hat, die er ironischerweise selbst verursacht hat. Es ist so poetisch wie brillant.

                                          Man mag diese Charaktere nie zur Rechenschaft ziehen, doch erkennt man inmitten all des Chaos und der politischen Intrigen die Kameradschaft zwischen dieser ungleichen Gruppe, so wie viele weitere Attribute, die uns human machen, ohne dass es plakativ oder kitschig dargestellt wird. Es ist schwer zu akzeptieren, dass diese Monster uns trotz all des Blutverlustes und der Plünderung mehr gleichen, als wir zugeben mögen. Vielleicht sind wir auch in der Lage, auf ihr Level zu sinken. Und wenn wir uns dann in diese Monster verwandeln, sind wir dann noch in der Lage,uns anderen öffnen? Sind unsere Leben dannverwirkt? Ist uns nicht mehr vergönnt, Glück zu finden? Mit diesen Fragen lässt uns VINLAND SAGA zurück. Denn wenn niemand im Recht steht, was für ne Wahl haben wir dann, als die Definition von Gut und Böse hinter uns zu lassen und alles aus einer neuen Sichtweise zu betrachten?

                                          P.S. Und das Verrückte ist, dass das alles nur der Prolog sein soll. Wenn die erste Staffel nur ein Vorgeschmack auf das ist, was kommen soll, dann glaube ich, dass wir es hier mit einem wahren Meisterwerk zu tun haben könnten.

                                          10
                                          • 8

                                            Etwas peinlich ist es mir schon, dass ich erst zu so später Stunde über eine meiner absoluten Lieblingsgeschichten schreibe. Nicht nur in Anime, sondern generell.
                                            Dabei hat es viele Jahre gedauert, bis ich mich überhaupt dazu gebracht habe, diese Serie zu starten. Nicht weil die Serie zu viel Zeit beanspruchen würde (mit ihren 87 Episoden ist sie von der Laufzeit her sogar angenehm kurz im Vergleich zu anderen großen Titeln) oder ich etwas gegen Animes hätte, nein, sondern weil das Konzept einfach so … bizarr klang. Das letzte, was von der Menschheit übrig bleibt, kämpft für ihre Freiheit gegen eine große Zahl gewaltiger, splitternackter, humanoider Menschenfresser. Auf Papier klingt das sicher nach eine der banalsten Ideen, die man sich ausdenken kann. Klassische Monster of the Week-Popcorn-Unterhaltung, die einzig und allein mit ihrem Spektakel zu begeistern weiß … und ich freue mich zu sagen, dass ich mich selten in meinem Leben selten so getäuscht habe.

                                            Die Erfahrung, die man mit ATTACK ON TITAN macht, ist vergleichbar mit der unserer Helden. Wie naive Sprösslinge, die keine Ahnung von der Welt haben, stellt man sich auf einen schwarz-weißen Konflikt ein, doch je mehr Zeit vergeht und je mehr man die Welt verstehen lernt, desto mehr wird einem bewusst, dass sich viel mehr unter der Oberfläche verbirgt und der ach so simple Konflikt viel grauer ist, als man sich je hätte vorstellen können. Ich übertreibe nicht wenn ich sage, dass diese ach so simple Prämisse eine der komplexesten Geschichten bereithält, die ich je in meinem Leben gehört habe. Was umso beeindruckender ist, wenn man bedenkt, dass diese Serie nicht auf aberhunderte Episoden gestreckt wird. Nie tappt die Serie auf der Stelle, nie verschwendet sie unsere Zeit. Jede Episode, jedes Event, jedes noch so unwichtige Detail ist kalkuliert und dient dazu, den Plot voranzutreiben oder ihn zu vertiefen, selbst wenn es uns erst beim Rewatch bewusst wird. Wenn die Serie eines definiert, dann Rekontextualisierung. Mit jeder großen Enthüllung ist es einem unmöglich, die vorigen Episoden im selben Licht zu sehen. Die Rede ist von keinen banalen Taschenspielertricks, sondern von waschechten Reveals, die unser ganzes Verständnis über die Welt, ihre Politik und ihre Konflikte komplett einreißt, so weit schon, dass man von einem Genrewechsel sprechen kann. Irgendwann wirken noch die Zeiten, wo uns jedes Opening mit pompöser, pathetischer Militärmusik auf spannende Monsterkämpfe vorbereitet hat, wie eine Erinnerung an die guten, alten Zeiten, wo wir noch klein und naiv waren. Dieser Reifeprozess ist durchgehend spürbar. Sind die Charaktere anfangs noch recht eindimensional, das Writing vorhersehbar und die Konflikte simplistisch, ist das später alles nur noch ein Schatten seiner Selbst.

                                            Und das Beste von allem ist: nichts davon fühlt sich konstruiert an. Natürlich kann jede/r Autor/in seiner/ihrer simplen Prämisse mehr Dimensionen geben, aber wenn man keine Vorarbeit leistet, kann sich das ziemlich schnell forciert anfühlen, wie als hätte man sich aus dem Nichts entschieden, tiefgründig zu sein. Zum Glück ist Hajime Isayama ein absoluter Meister, wenn es um Foreshadowing geht, da er uns über mehrere Episoden geschickt an der Nase herumführt, selbst wenn er uns gelegentlich einen kleinen Blick in die Büchse der Pandora erlaubt (ob wir es merken oder nicht). Und während so viele Serien scheitern, eine zufriedenstellende Antwort auf all unsere Fragen zu geben, nachdem sie für so lange Zeit aufgebaut wurden, erfüllt ATTACK ON TITAN nicht nur unsere Erwartungen, sondern übersteigt sie auf eine Weise, die wir uns nie hätten ausmalen können. Das ist mehr als nur eine simple Überraschung oder ein Bait and Switch, nein, es gibt uns Klarheit darüber, worum es eigentlich die ganze Zeit über ging, obwohl wir es für ne Weile nicht sehen konnten. Und noch besser: wenn wir an jedes Ereignis zurückdenken, wird uns dann bewusst, dass das von Anfang an die Intention war. Die Hinweise waren an jeder Ecke, schon seit Episode 1, nur haben wir sie entweder übersehen oder konnten die Punkte nicht miteinander verbinden. Viele Probleme, die man mit der Serie anfangs haben könnte, lösen sich mit der Zeit in der Luft auf. Selbst wenn sie in ihren ersten Schritten nicht immer erzählerisch ins Schwarze trifft, so wird das einem ganz egal, wenn man bedenkt, was für eine Entwicklung die Geschichte durchgemacht und was für eine Meisterklasse von Twist sie abgeliefert hat, die alles Gesehene um ein Vielfaches aufwertet und nahezu jeder noch so unwichtig erscheinenden Szene einen doppelten Boden gibt. Ich habe die Serie fünfmal gesehen und finde selbst heute noch wichtige Details, die ich übersehen habe. Es beeindruckt mich immer wieder, wie gut einfach alles connected. Wer hier eine Episode überspringt, verliert mit hoher Wahrscheinlichkeit wichtige Informationen, die dann später eine große Rolle spielen.

                                            Es ist natürlich eine große Herausforderung diese Serie zu empfehlen, ohne zu spoilern. Jedoch lasst es euch gesagt sein, dass die Serie in den späteren Staffeln nicht mehr wiederzuerkennen ist. All der Pathos, der in den ersten Openings zu spüren war, ist verflogen. Es gibt weder Helden noch Schurken. Es geht nicht mehr um Monster, sondern um die, die wir in uns tragen. Eine Geschichte, die erst so fern von unserer Realität entfernt scheint, wird dann plötzlich ungemütlich real und reflektiert auf die Fehler, die unsere echte Welt seit Jahrtausenden plagen. Dies ist kein kein Eskapismus in eine Welt voller Abenteuer und auch kein weiterer Battle-Anime. Genau genommen ist es wie kein Anime, den ich je gesehen habe, da ihm allerlei Attribute fehlen, die das Shōnen-Genre sonst definieren bzw. plagen. Statt dass die Bilder mit überdrehten Grimassen und Effekten zugemüllt werden, bleibt der Stil sehr geerdet und seriös. Jede Figur fühlt sich mehr wie ein Mensch als ein Cartoon-Charakter an. Und wo es keine cartoonhaften Designs gibt, gibt es auch keine unnötig großen “Proportionen”, die für Fanservice ausgebeutet werden. ATTACK ON TITAN ist wahrscheinlich einer der progressivsten Mainstream-Animes, nicht nur weil die Serie kein einziges Mal ihre weiblichen Charaktere auf Eyecandy reduziert, sondern weil sie genauso stark und genau so viel Plot-Relevanz haben wie die Männer. Wie viele Filme/Serien kennt ihr, wo es als Norm gesehen wird, dass zahlreiche Frauen dem Militär beitreten, ohne dass es zu einer einzigen Diskussion über Gendernormen kommt? Und wenn man in Betracht zieht, wie sich der Protagonist Eren Yaeger von nem oberflächlichen, rachsüchtigen Schreihals in eine der interessantesten Figuren in Anime History entwickelt, da kriegen beim Ergebnis selbst die besten Antihelden eine Gänsehaut.
                                            Auch wenn der Manga in seinen letzten Schritten etwas stolpert, was mich davon abhält, der Serie die volle Punktzahl zu geben, so ändert das nichts an der unglaublichen Seherfahrung, die weiterhin beweist, dass man ein Buch nie nach seinem Einband beurteilen sollte.
                                            Ich kam für aufregende Monsterkämpfe und blieb für philosophische Diskurse über den nie enden wollenden Kreislauf des Krieges, der Indoktrination der Völker und wie unsere blutige Vergangenheit unsere Gegenwart und Zukunft definiert.

                                            14
                                            • Platz 1: "Red Dead Redemption 2"
                                              Platz 2: "Dark Souls 3"
                                              Platz 3: "Elden Ring"
                                              Platz 4: "The Last of Us/ The Last of Us 2" (als Gesamtpaket)
                                              Platz 5: "Bloodborne"
                                              Platz 6: "Sekiro"
                                              Platz 7: "Journey"
                                              Platz 8: "Dark Souls"
                                              Platz 9: "Life is Strange"
                                              Platz 10: "Nier: Automata"

                                              15
                                              • 7

                                                Es ist schon seit geraumer Zeit ein Brauch geworden, dass in Hollywood Zeitkapseln auf viel Interesse stoßen. Genau genommen ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Nostalgie der Goldesel unserer Kinos geworden ist. Wir Leute, die unzufrieden mit unserer heutigen Welt sind, können ihr einfach in einem Kinosaal entfliehen und Zeiten reminiszieren, in denen wir einst gelebt haben oder am liebsten leben möchten. Und genau diese Rolle des Zuschauers nimmt Thomasin McKenzies Charakter Eloise ein, als sie in ihrem Schlaf in die 60er Jahre katapultiert wird und dort so ziemlich alles ihrem romantisierten Weltbild der damaligen Zeit entspricht. Die grauen, entsättigten Farben ihres Alltags sind plötzlich kunterbunt und verwandeln die Welt in ein neonfarbenes Paradies. Alles, was ihr retroliebendes Herz begehrt (und auch das der Zuschauer). Doch es dauert nicht lange, bis dass der Vorhang weggezogen und die hässliche Seite hinter all dem Glanz und Glimmer gezeigt wird. Unser perfektes Paradies wird immer realer. Die einst so schönen Farben brennen sich in unsere Netzhaut ein, bis dass es nicht mehr auszuhalten ist. Und uns wird mehr und mehr bewusst, wie gefährlich es sein kann, die Vergangenheit zu romantisieren.

                                                Edgar Wright liefert mit LAST NIGHT IN SOHO einen unerwartet ungemütlichen Eintrag in seine sonst so leicht verdauliche Filmographie ab. So weit, dass man sich ab der Hälfte des Films noch fragt, ob überhaupt noch er am Steuer ist und wir stattdessen eine Mischung aus SUSPIRIA, THE NEON DEMON, CORALINE und SUCKER PUNCH zu sehen bekommen. Auch wenn seine Erkennungszeichen wie die kreative Kameraarbeit oder der Retro-Soundtrack immer noch Fuß in seinem neuesten Werk finden, so kommen sie öftermals anders zum Einsatz als wir es bei ihm gewohnt sind. Während seine Songs oft dazu dienten, seine Szenen cool zu untermalen (oder im Falle von BABY DRIVER, dass sie im Takt der Melodie geschnitten werden), so werden die Retro Beats irgendwann so erdrückend, dass sie fast schon als Horror-Leitmotive durchgehen könnten. Trotz all der inszenatorischen Wucht und der grellen Farben verschönert Wright nichts, sondern zeigt unverhüllt die Seiten der 60er (und auch die der modernen Zeit), die wir esoterische Nostalgie-Freaks am liebsten ausblenden wollen. Der sonst so beliebte Coolness-Faktor seines Stils ist plötzlich das Vehikel für einige albtraumhaft-subjektive Sequenzen, die mir mehr als nur einmal den Magen umgedreht haben. Obwohl Wright noch einen weiten Weg vor sich hat, was das Inszenieren von Filmen angeht, die einem wirklich Angst machen, so schaffte er es mit LAST NIGHT IN SOHO mir auf ne Weise unter die Haut zu gehen, die manchmal tatsächlich effektiver sein kann als jede noch so brillant inszenierte Horrorszene. Dieses Gefühl lässt sich in einem Satz gut erklären:

                                                “The most well done horror is the one that scares you emotionally.”

                                                Obwohl Wright definitiv nicht den gruseligsten Film abgeliefert hat, den ich in den letzten Jahren gesehen habe, so hat mich sein Umgang mit dem Konzept auf ne Weise erschüttert, wie es nur ein wirklich guter Horrorfilm tun kann: indem er einen nicht mehr loslässt und man die Welt um sich herum in einem anderen Licht sieht. Und das obwohl ich nicht zu den Menschen gehöre, deren Probleme hier vertieft werden (was aber meiner Meinung nach kein Hindernis sein muss, um mit einem Film anzuknüpfen).
                                                Wright besteht mit diesem Film seine Reifeprüfung und zeigt, dass er zu mehr imstande ist, als nur mit seinem Hipster-Stil die Massen zu begeistern. Eigentlich ist es ziemlich ausschlaggebend, dass LAST NIGHT IN SOHO von vielen Edgar Wright Stans als der schwächste gesehen wird. War der Film etwa nicht “fun” genug, um ihren Hunger zu stillen? Meiner Meinung nach sollte man es zelebrieren, dass er sich mit diesem Mystery-Thriller aus seiner Komfortzone wagt und uns in Zukunft vielleicht mehr Filme vorlegt, die mit ihrem subversiven Umgang einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Selten war ein Nostalgie-Trip weniger befriedigend … und das ist gut so!

                                                12
                                                • Erwähnenswert wäre noch "SHE-RA UND DIE REBELLENPRINZESSINEN" (2018-2020).
                                                  Die Serie würde schon allein dafür ausreichen, dass die Heldin dieser FSK 6 Animationsserie als explizit queer dargestellt wird und mit einem anderen gleichgeschlechtlichen Hauptcharakter zusammen kommt, doch das würde nur an der Oberfläche kratzen, was die Repräsentation angeht. Von nonbinären Charakteren, die mit dem richtigen Pronomen "They" angesprochen werden bis hin zu gleichgeschlechtlichen Eltern, die einen der Protagonisten von Geburt an aufgezogen haben. Auch die Zahl weiterer LGBT-Charaktere und -Pärchen ist ziemlich hoch, die sich auch mehrmals küssen dürfen, an ihren Hochzeitstag denken usw. Selbst die sexuelle Anziehung zwischen einem jungen Mann und einem männlichen Reptilienwesen ist der Serie nicht zu schade.
                                                  Nach der Vorarbeit von Serien wie Die Legende von Korra, Adventure Time, Steven Universe, ist das wirklich die Kulmination, was Repräsentation in "Kinderserien" angeht.

                                                  6
                                                  • 7 .5

                                                    Serien wie SHE-RA haben es nicht leicht.
                                                    Dass der Zeichentrick-Artstyle im Laufe der Jahre immer mehr von der Bildfläche verschwunden ist und sich die Kinofilme, die Gebrauch davon machen, nur noch an einer Hand abzählen lassen, ist Beweis genug, dass die Massen sich von diesem Medium distanziert haben. Von Hand gezeichnete 2D-Welten seien Kinderkram, hieß es. 3D-Animation sei für Erwachsene, da es “realistischer” aussieht. Kombiniert man diese Denkweise mit einer Geschichte, die sich um magische Prinzessinnen in einer kunterbunten Glitzerwelt dreht, dann hat man das ultimative Füllhorn der Animosität. Ob wir es einsehen wollen oder nicht, ist es fast schon die Norm geworden, dass “mädchenhafte” Produkte als oberflächlicher Stuss gesehen wird. Ein rosarotes Paradies, wo es viel Gekichere, Geknutsche und Märchenprinzen gibt. Dass die Industrie diese Denkweise über mehrere Jahrzehnte mit geschlechtsspezifischen Spielzeugen, Filmen, Büchern usw. nur noch angefeuert hat, hat sie dann letztendlich in Stein gemeißelt. Und selbst wenn wir jetzt in einer Welt leben, die sich langsam aber stetig von diesem Schubladendenken wegbewegt, so werden die Vorurteile noch eine ganze Weile bestehen. Schon allein das Intro von SHE-RA dürfte manche Leute in kleine Jungs verwandeln, die mit ausgestrecktem Finger auf den Bildschirm zeigen, ne Grimasse machen und laut “Iiiiiih, Mädchen” schreien.
                                                    Doch statt dass sich SHE-RA die abwertende Mentalität der Zuschauer aneignet und seiner Geschichte einen hippen Meta-Anstrich à la Disney gibt (“If you start singing, I am gonna vomit.” haha, ist das nicht meta?) oder mit dem Holzhammer auf die problematischen Klischees des vorgefertigten Bildes einer Prinzessin schlägt (“You can't marry a man you just met.” HAHA, IST DAS NICHT ME-), macht die Serie Gebrauch von all diesen Elemente und zeigt ohne einen Hauch von Zynismus, dass es nicht Beschämendes oder Minderwertiges an einer “mädchenhaften” Ästhetik gibt, solange man eine gute Geschichte zu erzählen hat.

                                                    Anfangs scheint die Prämisse von SHE-RA UND DIE REBELLEN-PRINZESSINNEN noch ziemlich altbacken zu sein und die Geschichte nach Handbuch zu laufen. In einem Krieg zwischen zwei Völkern entscheidet sich die Heldin der Geschichte für eine Seite, um die Welt zu retten. Zudem erhält sie Zugang zu einer mysteriösen Kraft, die sie zum Symbol der Freiheit macht. Schon allein die Designs zeigen unverwechselbar wer die Guten und wer die Bösen in diesem Konflikt sind. Zugegeben klingt diese grobe Zusammenfassung so banal wie es nur irgendwie möglich ist, doch gelingt es der Serie nicht nur, sich von diesem scheinbar schwarz-weißen Konflikt stetig wegzubewegen, sie schafft es auch noch diese altbekannte Formel über das Konzept von Gut und Böse als Fundament für ihre Leitmotive zu nutzen. Statt dass die Serie eine gewisse Gruppe von Leuten antagonisiert, wird das eigentliche Konzept des Faschismus, der Dehumanisierung und dem Richten nach falschen Idealen (auf beiden Seiten) als der wahre Feind gesehen und nicht ein spezifisches Subjekt. Die Quelle von allem Bösen ist der Wille, sich einem ungesunden Idealbild zu unterordnen. Die Unterdrückung seines wahren Ichs, um eine Marionette des Systems und zu einem weiteren Zahnrad der großen Maschinerie des Hasses, des emotionalen Missbrauchs und der Repression zu werden. SHE-RA dreht sich nicht darum, einer dämonisierten Gruppe von Leuten zu Brei zu schlagen, sondern diesen Teufelskreis zu brechen. Die lange Kette des Leidens zu beenden, indem man zu der Quelle zurückkehrt und dem ein Ende setzt.

                                                    Wenn sich SHE-RA mit einer Sache stark auseinandersetzt, dann wie der schlechte Einfluss anderer unschuldige Seelen in “Monster” verwandelt und wie auch diese Übeltäter einst dasselbe in ihrer Vergangenheit erleben mussten. Der niemals enden wollende Zyklus des emotionalen Missbrauchs ist wie eine Fackel, die von Mensch zu Mensch weitergereicht wird. Ein Dominostein wirft den nächsten um.
                                                    Selbst der große Antagonist der Serie wird nicht als eindimensionales Hindernis hingestellt, obwohl sein stereotypisch diabolisches Design das vielleicht vermitteln würde. Statt eines kaltherzigen, selbstsüchtigen Monstrums, sehen wir einen geistig und körperlich gebrochenen Klon, der sich aufgrund seiner Imperfektionen und den resultierenden Drucks seines nach Perfektion strebenden Volkes, das ihn verbannt hat, als Fehlschlag sieht und alles tut, um dem perfekten Bild zu entsprechen, das seine Heimat in sein Hirn gepflanzt hat. Sein Zweck in der Geschichte ist es nicht, unseren Helden im Weg zu stehen, sondern sich von dieser Mentalität zu distanzieren, sich selbst lieben zu lernen und sich einen eigenen Namen zu machen. Es ist kein Wunder, dass dieser Heilungsprozess durch eine Person eingeleitet wird, die aufgrund ihrer autistischen Natur von manchen als “Fehler” gesehen wird, aber gelernt hat, sich nicht von diesen “Narben” prägen zu lassen. Die Serie findet die perfekte Balance darin, auf der einen Hand die schlechten Seiten zu zeigen, wenn man als Mensch emotional, geistig oder körperlich “beschädigt” wurde, sei es von äußeren Einflüssen oder weil es ihrer Natur entspricht, und auf der anderen wie die Charaktere mit ihrem Trauma umzugehen wissen. So gut wie jeder hat seine eigene Narbe, seine eigene Behinderung, selbst bei Attributen, die man in den meisten Medien sonst als positiv sehen würde, wie z.B. das romantisierte Bild der heroischen Selbstaufopferung, das hier kritisch hinterfragt und fast schon als Charakterschwäche hingestellt wird.

                                                    Die Protagonistin ADORA, die den Mantel der nächsten SHE-RA auf ihren Schultern trägt, ist die Antithese zu dem Heldenbild, das wir von Ikonen wie Superman haben. So sehr wir auch Menschen lieben, die selbstlos handeln und das Wohl der anderen über ihr eigenes stellen, zeigt die Serie die Risse hinter einer solch entbehrungsvollen Attitüde. Die ist sogar genau der Grund, warum Adora und ihre Freundin CATRA getrennte Wege gehen und sich als Feinde auf dem Schlachtfeld wieder treffen. Nicht nur ist ihre Dynamik das Herz der Serie, ihr tragischer Zerfall zeigt auch wie ihre Rolle in der Geschichte zwei Seiten derselben Medaille zeigen. Sie wuchsen beide als gute Freundinnen in der Horde auf, erlitten jedoch aufgrund der grausamen Art, wie sie erzogen wurden, eine Gehirnwäsche, die sie ihr Leben lang begleiten würde. Während in Adora alle Hoffnungen und Erwartungen der Horde gesetzt wurden und sie (wenn auch toxische) Liebe erfahren durfte, wurde Catra eingeredet, dass sie es zu nichts bringen würde und wertlos ist, was zu einer Kindheit voller Schmerz und emotionalen Missbrauchs geführt hat. Doch trotz der klaren Bevorzugung von Adora hielten sich beide immer den Rücken frei. Wird aber jedoch in den jungen Jahren eines Kindes eine negative Saat gesetzt, so wächst sie im Laufe der Jahre in deren Geist immer weiter, bis es alt genug sind, eine eigene Entscheidung treffen und was für ein Mensch es sein will. Und wenn es darum geht, wessen Seite man in einem Krieg Treue zeigt, können sich die Wege zweier Kinder trennen, je nachdem wie sie in ihren jungen Jahren gelernt haben, wie die Welt funktioniert und welche Rolle sie darin spielen. Um die Herzen verletzter Menschen zu ändern, braucht es mehr als eine nette Geste und eine motivierende Rede, so viel macht die Serie klar. Wenn sich die Wege von Catra und Adora kreuzen, haben wir als Zuschauer keine Freude daran, wenn sie sich gegenseitig die Augen auskratzen wollen, sondern halten uns an der Hoffnung fest, dass einer von beiden es schafft, den Schutzpanzer des anderen zu brechen, um sie von all dem Schmerz zu befreien. Jeder Sieg kommt mit einem Hauch Melancholie, da wir immer noch die beiden Kinder sehen, die sich in ihren jungen Jahren beschützt haben, ganz egal, wie grausam die Welt zu ihnen war.

                                                    So sehr das Konzept von der alles rettenden Liebe belächelt wird, gibt es viele Wege, wie man dem die nötige Substanz geben kann, ohne dass es naiv oder simplistisch wirkt. In einer Geschichte, wo Kontrolle als der wahre Feind hingestellt wird, sei es vom System oder von dem Einfluss bestimmter Individuen, ist es nur logisch, dass Empathie und der Ausbruch aus den Fängen derer, die versuchen, ihre dehumanisierende Ideologie auf andere zu übertragen, als die Lösung gesehen wird. SHE-RA scheut sich nicht zu zeigen, dass selbst das betitelte Symbol der Hoffnung nur ein Werkzeug eines weiteren Systems der Kontrolle ist, das wir für eine Weile als die “gute” Seite gesehen haben. Für eine Welt, wo das Farbschema einem suggerieren soll, wer die Guten und wer die Bösen sind, ist der Konflikt weit grauer als es den Anschein hat.

                                                    Nach allem, was ich geschrieben habe, habe ich vielleicht den Eindruck erweckt, dass SHE-RA eine ziemlich deprimierende Serie ist, aber so wie viele andere großartige Cartoons in der Liga von AVATAR-DER HERR DER ELEMENTE und DIE LEGENDE VON KORRA schafft sie es ernste, tiefgründige Themen mit einem spannenden Abenteuer, sympathischen Charakteren, guter Comedy und einer Welt zu kombinieren, die Freude macht, zu erkunden. Und es macht mich ungemein glücklich, wie weit Animationsserien für Kinder gekommen sind, wenn es um queere Repräsentation geht. Von zahlreichen LGBT-Pärchen bis hin zu nonbinären Charakteren, die sogar mit dem richtigen Pronomen angesprochen werden, diese Serie ist so bunt wie die Welt, in der die Charaktere leben. Ganz egal was der scheinbar kitschige Look euch glauben lassen mag, ist es eine Serie, die sich jeder anschauen kann. Egal ob man ein Mann, eine Frau, ein Kind, ein Erwachsener usw. ist. Es wird Zeit, dass wir uns von dem Schubladendenken wegbewegen und erkennen, dass Schönheit und Qualität in allem zu finden ist, selbst in einer Geschichte mit fliegenden Einhörnern und magischen Prinzessinnen. Denn wie die Serie schon aussagt: Oberflächen können irreführend sein und bestimmen nicht, wer wir sind.

                                                    10